Seite - 334 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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334 | Nachsatz
men und kamen weder in der Forschung noch in populären Erinnerungskultu-
ren an.
Die Art, wie Berthold Viertel sein Thema in scharfen Gegensätzen ordnete –
um seine Ordnungen dann immer wieder zu durchbrechen
–, war in der Tat eine
typische Reaktion auf die moderne Erweiterung, Beschleunigung und Relativi-
tät von Zeit und Raum durch technologische Innovationen (Telegraf, Telefon,
Film, Fahrrad, Auto, Flugzeug etc.) und damit verbundene Globalisierung.
Diese Technologien bedingten zwischen 1880 und 1918 Transformationen des
Denkens und verlangten ordnende Reaktionen : »The great variety of any parti-
cular age do not line up on one side of the issues. […] knowledge is essentially
dialectal, […] ideas are generated in opposition to other ideas and have a basic
polemic nature.«5
Auch Berthold Viertel musste sich selbstverständlich einer Seite zuordnen
undwurde ihr autobiografischer Bewahrer. Auch aus dieser Position versuchte er
aber – soweit es ihm möglich war – Befangenheiten, Mehrdeutigkeiten, Span-
nungen, ein Fluktuieren zwischen den angenommenen, »idealen« Polen, Zögern
und »Umlernen« in vielen Bereichen sichtbar zu machen. Gerade deshalb gestal-
tete sich die Arbeit mit den autobiografischen Quellen oft schwierig, weil sich
Widersprüche vielfach nicht auflösen ließen. So auch dieser :
Obwohl es Viertels wesentlichstes Anliegen war, die »kritische Moderne« den
kommenden Generationen (in Österreich ?) zu erhalten, war er doch offen ge-
nug, seinen im Ausland aufwachsenden Söhnen eine andere »unösterreichische«
Entwicklung zuzugestehen. An seinen Jugendfreund Ludwig Münz schrieb er :
»Von meinem Buben hatte ich Briefe, die mir gezeigt haben, wie unseresgleichen
als junge Amerikaner aussehen. Die Physiognomie der Buben hat nichts Café-
Central-artiges, und ich kann dir versichern, dass das nicht wie ein Fehler
wirkt.«6
In biografischen Erinnerungsorte wollte ich wiederum die Viertel’schen De/
Konstruktionen in ihrer Widersprüchlichkeit »bewahren«, sie zugleich nachvoll-
ziehbar machen und ihre Leerstellen und problematischen Aspekte aus aktueller
Perspektive nochmals offenlegen. Mit und gegen Berthold Viertel ging es also
um Auseinandersetzung mit verschiedenartiger Modernität in Österreich, mit
einem monarchischen Gefühl, mit Galizien und Migrationshintergründen in
einem jüdischen Wien, mit katholischen Dienstmädchen und deutscher Kultur,
mit Luegers Wien und dem »Mitschüler« Hitler, ,mit jugendlichem Kulturan-
archismus und der sozialdemokratischen Familie Adler, mit einem semi-institu-
tionalisierten Studium und sexueller »Emancipation«, mit Gesellschaftskritik
5 Kern, Time and Space, 2003, 11.
6 BV an Ludwig Münz, 1. Juli 1935, 78/849/1, K32, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359