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Das Bild Amerikas aus europäischer Sicht bis Anfang der 1930er-Jahre
irdischen Paradieses , wie es Columbus für das christliche Europa zu entdecken vermeinte ,59
begannen sich spätestens mit dem weltweiten Siegeszug der kapitalistischen Produktions-
weise und der damit einhergehenden tiefgreifenden industriellen Veränderung der Arbeits-
und Lebenswelt , deren kommerzielle Auswirkungen auch Europa bald zu spüren bekam ,
grundlegend in Richtung einer scharfen bildungsbürgerlichen Kritik beziehungsweise Ab-
lehnung amerikanischer Massenkultur zu wandeln60 – wobei der ökonomisch-wirtschaft-
lichen Stärke Amerikas weiterhin mit Respekt oder auch Bewunderung begegnet wurde.
Die Ambivalenz zwischen enthusiastischer Bewunderung einerseits und enttäuschter
Ablehnung des „American way of life“ andererseits kennzeichnete freilich bereits
– ob real
oder fiktiv – die frühen europäischen Studien61 und Reiseberichte62 des 19. Jahrhunderts ,
wobei die anfänglich überwiegende Amerikabegeisterung bereits gegen Ende des Jahrhun-
derts allmählich der prognostizierten Gefahr einer „Überfremdung“ durch die Verbreitung
amerikanischer Lebensart wich.
Lange bevor die europäische literarische Moderne die inhumanen Arbeits- und Exis-
tenzbedingungen des amerikanischen Systems , den gewalttätigen Kapitalismus und den
drohenden Wertezerfall anprangerte63 – unter partieller Ausblendung der realen sozialen
litt die Wahrheit des Gegenstandes durch die politische. Der Liberalismus der Restaurationsperiode fand
in Wort und Schrift über Amerika eines seiner wenigen erlaubten Ausdrucksmittel. Er benutzte es eif-
rig. Er feierte die Sternenbannerrepublik als die praktische Verwirklichung seines geächteten Ideals. Aus
dieser Tendenz ging zwar die Wahrheit auf , aber nicht die volle Wahrheit. Er hätte es für politische
Unklugheit , ja für Verrat gehalten , die Flecken seiner Sonne zu gestehen. In dieser filtrierten Sonnen-
beleuchtung nun übernahmen die Gebildeten der vorigen Generation Amerikas Bild. [ … ] In der Tat
erkannte Moorfeld seine europäische Lektüre über Amerika jetzt bloß als Unterhaltungslektüre und sah
die Notwendigkeit ein , die Belehrungslektüre von vorn anzufangen.“ Ferdinand Kürnberger , Der Ame-
rikamüde , Wien – Köln – Graz 1985 , 81 f. Tatsächlich sah sich bspw. Gottfried Duden angesichts der
immer zahlreicher werdenden Warnungen und Negativ-Berichte über Amerika , die von Rückkehrern
formuliert wurden , 1837 genötigt , seinen teilweise euphorisch gehaltenen Bericht über Amerika in einer
„Selbstanklage“ zumindest leicht zu revidieren. Vgl. Lerg , Amerika als Argument. Die deutsche Amerika-
Forschung im Vormärz , a. a. O., 42.
59 Tzvetan Todorov , Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen , Frankfurt a. Main 1985 , 25 ff.
60 Insbesondere im Zusammenhang romantischer Vorstellungen von einem „Neu-Deutschland“ in den ame-
rikanischen Kolonien
– die mitunter soweit gingen , den Erwerb ganz Kaliforniens anzuregen , um dort eine
deutsche Kolonie zu gründen – und siedlungspolitischen Überlegungen im deutschen Mutterland gewann
der „Kulturbegriff“ bzw. der „Vorwurf mangelnder Kultur in der jungen Republik eine zentrale Facette.“
Charlotte A. Lerg , Amerika als Argument. Die deutsche Amerika-Forschung im Vormärz und ihre poli-
tische Deutung in der Revolution von 1848 / 49 , Bielefeld 2011 , 32 bzw. 36.
61 Conrad Friedrich Schmidt-Phiseldeck , Europa und Amerika , oder die künftigen Verhältnisse der civilisir-
ten Welt , Copenhagen 1820.
62 Vgl. Gottfried Berger , Das Bild der Vereinigten Staaten von Nordamerika in der deutschen Reiseliteratur
des 19. Jahrhunderts. Unter besonderer Berücksichtigung von Werk und Persönlichkeit des Österreichers
Karl Postl ( Charles Sealsfield ), phil. Diss., Univ. Wien 1945.
63 So beispielsweise bei Gerhart Hauptmann , Rainer Maria Rilke , Franz Kafka , Frank Wedekind , Lion
Feuchtwanger oder Bertolt Brecht. Vgl. Wagnleitner , Coca-Colonisation , a. a. O., 26.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741