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Das Bild Amerikas aus europäischer Sicht bis Anfang der 1930er-Jahre
In der Folge stiegen in Europa amerikanische Investitionen und Exporte bis in die
Dreißigerjahre sprunghaft an , und neben Massenartikeln der Konsumgüterindustrie und
deren tayloristisch-fordistischen Produktionsmethoden waren auch die Segnungen moder-
ner Unterhaltungsindustrie wie Jazz-Schallplatten , illustrierte Magazine oder Hollywood-
Filme bald allgegenwärtig. Luigi Pirandello meinte 1929 diesbezüglich :
„Der Amerikanismus überflutet uns. Ich glaube , dass man [ … ] einen neuen Leuchtturm der
Zivilisation entzündet hat. [ … ] Das Geld , das die Welt durchläuft , ist amerikanisch , und
hinter dem Geld läuft die Lebensweise und die Kultur. Hat Amerika eine Kultur ? Es hat
Bücher und Gewohnheiten. Die Gewohnheiten sind seine neue Literatur , jene , die durch die
am stärksten befestigten und verteidigten Tore dringt. In Berlin spüren sie nicht den Abstand
zwischen altem und neuem Europa , weil die Struktur dieser Stadt keine Widerstände bietet.
In Paris , wo es eine geschichtliche und künstlerische Struktur gibt , wo die Zeugnisse einer
autochthonen Zivilisation zugegen sind , sticht der Amerikanismus ab wie die Schminke auf
dem alten Gesicht einer Lebedame.“134
Ebenso wie in Italien135 waren auch Frankreichs Intellektuelle , deren antiamerikanische
Ressentiments trotz der differenzierten frühen Studie Alexis de Tocquevilles zur ame-
rikanischen Massendemokratie136 traditionell besonders ausgeprägt waren ,137 spätestens
134 Luigi Pirandello in einem Interview mit Corrado Alvaro. In : L’Italia Letteraria , 14. April 1929. Zit. nach. :
Gramsci , Amerikanismus und Fordismus , a. a. O., 2098.
135 Vgl. Gamal Morsi , „Amerika ist immer woanders“. Die Rezeption des American Dream in Italien , Mar-
burg 2001 , 105 ff. ; für die Nachkriegszeit siehe die elaborierte Studie : Alessandro Brogi , Confronting
America. The Cold War between the United States and Communists in France and Italy , Chapel Hill
2011 ; weiters : Ekkehart Krippendorf ( Ed. ), The Role of the United States in the Reconstruction of Italy
and West Germany 1943–1949. Papers presented at a German-Italian Colloquium held at the John F.
Kennedy-Institut für Nordamerikastudien , Berlin 1981.
136 Auf Basis von Reiseeindrücken , die Alexis de Tocqueville ( 1805–1859 ) in den Jahren 1831 / 32 in den
Vereinigten Staaten gemeinsam mit seinem Begleiter Gustave de Baumont gemacht hatte , publizierte
dieser 1835 bzw. 1840 zwei Bände seine umfangreichen demokratietheoretischen Studie „Über die De-
mokratie in Amerika“. In diesem Klassiker der modernen Demokratietheorie analysierte der spätere
Abgeordnete Tocqueville sowohl Stärken als auch Schwächen des amerikanischen politischen Systems.
Obwohl das Buch respektive sein Autor , trotz der darin enthaltenen deutlichen Kritik der Ungleichstel-
lung von Afroamerikanern und Indianern , insbesondere in den USA bald einen regelrechten Kultstatus
erreichte , blieb dessen Wirkungsgeschichte außerhalb Frankreichs allerdings äußerst gering. Vgl. dazu :
Karlfriedrich Herb / Oliver Hidalgo , Alexis de Tocqueville , Frankfurt a. Main 2005 , 146 ; weiters : Alexis
de Tocqueville , Über die Demokratie in Amerika , Stuttgart 1985 ; zur Amerikareise Tocquevilles im De-
tail siehe die ausführliche Darstellung bei George Wilson Pierson , Tocqueville in America , Baltimore –
London 1996 [ zuvor veröffentlicht unter dem Titel : Tocqueville and Baumont in America , New York
1938 ].
137 Vgl. Richard J. Golsan , From French Anti-Americanisms and Americanization to the „American Enemy“ ?
In : Alexander Stephan ( Ed. ), The Americanization of Europe. Culture , Diplomacy , and Anti-America-
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741