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Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
zur Begutachtung vor , wobei sich allerdings die Hälfte der zu überprüfenden Professoren
im Moment nicht in Wien aufhielten.1292
Hinsichtlich der personalen Erfordernisse des universitären Lehrbetriebes konstatierte der
Bericht , der sich offensichtlich stark auf Material des Unterrichtsministeriums stützte , in über-
aus pragmatischer Sicht , dass zu einem gegebenen späteren Zeitpunkt
– unter Anwendung
des Kriteriums „wissenschaftlicher Qualifikationen“ – die Wiedereinstellung von NSDAP-
Mitgliedern beziehungsweise Parteianwärtern , gegen die „keine besonderen Gründe“ sprä-
chen , in Betracht zu ziehen sei. In Bezug auf die Frage nach einem „qualifizierten Ersatz“ für
die suspendierten NS-Lehrkräfte seien diese
– so der US-Geheimbericht , der sich hier expli-
zit auf die Aussage des Unterrichtsministeriums berief
– „available in sufficient numbers“1293 ;
woher dieses „verfügbare“ wissenschaftliche Personal kommen sollte und , vor allem , wer damit
konkret gemeint war , wurde an dieser Stelle allerdings nicht weiter ausgeführt.
Eine detaillierte exemplarische Untersuchung zum Entnazifizierungsverlauf der
– nach
Stand des Sommersemesters 1944 – 70 ordentlichen und planmäßig außerordentlichen
Professoren an der philosophischen Fakultät der Universität Wien belegt , dass der Pro-
zess der überwiegend formal-juristisch betriebenen Entnazifizierung sowie der oftmals
nachfolgenden Amnestierung und Rehabilitierung im Bereich der Professorenschaft kei-
neswegs zu einem Karrierebruch führte , sondern zu „einem erstaunlichen Ausmaß an
Kontinuität“.1294 Zwei Drittel der entnazifizierten Professoren der philosophischen Fakul-
tät ( 53 , das heißt 77 Prozent ) machten – nach mehr oder minder kurzen Außerdienststel-
lungen
– nach 1945 eine zweite Karriere : 18 davon allein an der Universität Wien ; lediglich
15 wurden ohne Ruhestandsbezüge entlassen.1295
Im Hinblick auf die Entnazifizierung der Dozenten , Assistenten und Lektoren kam der
oben erwähnte US-Geheimbericht zur Ansicht , dass die bisher getroffenen Maßnahmen
keineswegs als zufrieden stellend betrachtet werden könnten. Die Ursache dafür , so mut-
maßte man wohl nicht ganz unzutreffend , liege entweder in der allgemeinen Nachsich-
tigkeit oder in der Milde gegenüber jüngeren Universitätsangehörigen : „This may be due
either the leniency on part of the authorities or that de-Nazification began with professors ,
and the program has not yet been carried with vigor to junior faculty members.“1296
1292 Auf Basis der bisherigen Erfahrungen würde sich dadurch , wie der Report an dieser Stelle mutmaßte , die
Gesamtzahl der entlassenen Professoren wie folgt erhöhen : „Assuming that one out of three of those 90
cases were decided against the incumbent , the total number of professors dismissed would rise to 158 , 43
percent of the total number of professors.“ Ebd., 4.
1293 Ebd., 5.
1294 Pfefferle / Pfefferle , Glimpflich entnazifiziert , a. a. O., 107 f.
1295 Roman und Hans Pfefferle stützen sich in ihrer Analyse auf eine im Universitätsarchiv Wien aufgefun-
dene , siebenseitige Liste ( Kurrentakten 777 , 1944 / 45 GZ–603 / 4 ), die einen Großteil der entnazifi-
zierten Professoren enthält und Ende 1945 entstanden sein dürfte. Vgl. ebd., 107 f.
1296 Cecil W. Gray , USFA Office of the Political Advisor , Counselor of Mission , to the Secretary of State ,
a. a. O., 4.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741