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Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern 21
Mit der Wahl Rudolfs von Habsburg zum deutschen König und Kaiser des Hei-
ligen Römischen Reiches im Jahr 1273 begann die wechselvolle Geschichte der Ju-
den unter der Herrschaft der Habsburger. Zunächst waren Rudolf und seine un-
mittelbaren Nachfolger – im Gegensatz etwa zu England, wo Juden zu eben dieser
Zeit für Jahrhunderte vertrieben wurden – bemüht, möglichst günstige Rahmen-
bedingungen für die Zuwanderung und dauerhafte Ansiedlung von Juden in den
habsburgischen Erbländern zu schaffen. Da Juden dem Herrscherhaus zunächst als
Münzpräger, dann als Geldbeschaffer für seine umfangreichen politischen und wirt-
schaftlichen Unternehmungen immer unentbehrlicher wurden, waren die Habsbur-
ger bemüht, »ihre Juden« nach Kräften zu schützen und zu privilegieren, was u. a.
dazu führte, dass die Residenzstadt Wien gegen Ende des 14. Jahrhunderts eine der
größten jüdischen Gemeinden Europas beherbergte.47
Die relative Sicherheit und der Wohlstand der österreichischen Judengemein-
den im Hochmittelalter fand jedoch im Frühsommer 1420 ein jähes Ende. Das
Gerücht, die Juden unterstützten die Hussiten (den damaligen Kriegsgegner) sowie
die Beschuldigung der Hostienschändung48 (im Verein mit einer durch Theologen
der Wiener Universität hervorgerufenen judenfeindlichen Stimmung49) führte zu
Zwangstaufen, Folter, Enteignung, Ausweisung, und, ganz zuletzt, am 12. März
1421, zur öffentlichen Verbrennung von 210 jüdischen Männern, Frauen und Kin-
dern
– durchwegs Angehörige der gebildeten Oberschicht, die die Taufe noch immer
verweigerten – auf der Erdberger Lände vor den Toren Wiens. Auch in Tulln, Lan-
genlois und Krems starben Juden auf dem Scheiterhaufen. Jene etwa 800 Wiener
Juden, denen die Flucht auf Booten donauabwärts gelungen war, siedelten sich spä-
ter in Mähren und Ungarn an, wo sie Kaiser Sigismund, der Schwiegervater Herzog
Albrechts, unter seinen Schutz nahm.50
47 Etwa fünf Prozent der damaligen Wiener Bevölkerung waren Juden. Vgl. Klaus Lohmann : Zwischen
Finanz und Toleranz. Das Haus Habsburg und die Juden (Graz/Wien/Köln 2000), S. 15.
48 Der Prozess um die Ennser Hostienschändung von 1305 in Klosterneuburg wurde von den Chro-
nisten offenbar nachträglich als eine der Ursachen für die Wiener Geserah angegeben. Birgit Wiedl :
Konstruktion eines Verbrechens. Die angebliche Ennser Hostienschändung im Kontext der Ju-
denverfolgung und -ermordung von 1420/21. Vortrag bei der Tagung des Instituts für jüdische
Geschichte Österreichs »Taufe oder Tod ?«. Die Vernichtung der Wiener Judenstadt 1420/21 im
Spannungsfeld zwischen Theologie und Politik, 11. März 2011, Fakultätssitzungssaal der katho-
lisch-theologischen Fakultät der Universität Wien.
49 Nach Klaus Wolf (Heidelberg) spielte die Agitation von Angehörigen der Wiener Theologischen
Fakultät bei der Entstehung des Pogroms von 1420/21 eine bedeutende Rolle. Klaus Wolf : »Pey der
äffinn ist dew Judenschül zu versten. Zum Judenbild in frühneuhochdeutschen Texten der Wiener
Schule. Vortrag bei der Tagung »Taufe oder Tod ?« a.a.O.
50 Lohrmann, Wiener Juden, S. 168.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271