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30 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
mens vom 19. Oktober 1781 gründlich enttäuscht werden.86 Trotz aller gewährten
Erleichterungen blieb das verhasste System der Familienstellen bestehen. Brüsk wies
der Kaiser eine von den Vorstehern der böhmischen jüdischen Gemeinde, Joachim
Popper und Isaac Bobolc, unterzeichnete Petition, die Beschränkung der jüdischen
Familien »ad numerum localem in Gemäßheit seiner Majestät allerhöchster Absich-
ten aufzuheben« und ihnen – analog des Niederösterreichischen Toleranzpatentes –
zu erlauben, »unter den Christen zu domicilieren«87, mit der Bemerkung zurück,
dass lediglich im Falle, dass »sehr gute Fabrikanten kommen, die sich auf dem Lande
niederlassen wollen«, eine Ausnahme gemacht werden solle, im Übrigen aber der
böhmischen Landesjudenschaft zu bedeuten sei, dass sie sich mit seiner früheren
Verordnung begnügen solle.88
Das am 13. Februar 1782 erlassene Toleranzpatent für die Juden Mährens brachte
für diese zwar die Aufhebung bestehender Diskriminierungen, das überkommene
Familienstellen-System blieb jedoch auch hier erhalten89, entsprach dieses doch
durchaus den josephinischen Vorstellungen einer Erziehung der Untertanen, zwar
nach den Prinzipien der Aufklärung, doch mit den Mitteln des Überwachens und
Strafens, oder, zeitgenössisch gesprochen : der »Evidenzhaltung« und Kontrolle.90
Zahlreiche Petitionen und Beschwerden zielten vergeblich auf Änderung.
Wie außerordentlich streng das Familienstellen-System exekutiert wurde, belegt
ein Gnadengesuch des mährischen Beamten Josef Richter, der darum bat, ihm eine
durch das mährisch-schlesische Landesgubernium wegen in der Judengemeinde
Lomnitz/Lomnice vorgefundenen »überzähligen Judenfamilien« verhängten Geld-
strafe von 100 Dukaten »allergnädigst nachzusehen«. Der Beamte führte zu seiner
Entschuldigung an, dass er erst im März 1785 seinen Dienst zu Lomnitz angetreten
habe und bisher verhindert gewesen sei, »die von seinem Vorgänger übernomme-
nen 51 Familien gehörig nachzuzählen«. Bei der Einvernahme habe die betroffene
Judengemeinde zu ihrer Entschuldigung angeführt, dass »aus Brotmangel und um
ihr Leben zu erhalten« viele Lomnitzer Familien nach Ungarn und Polen gegangen,
86 Vgl. Stefi Jersch-Wenzel : Grundlagen der Judenemanzipation bis 1848 im östlichen Mitteleuropa :
Politische Rechte, soziale Stellung und religiöse Strömungen, in : Jörg K. Hoensch et al. (Hg.) : Ju-
den emanzipation, Antisemitismus, Verfolgung in Deutschland, Österreich-Ungarn, den Böhmischen
Ländern und in der Slowakei (Tübingen 1999), S. 91–101, hier : S. 93.
87 AVA Inneres, Hofkanzlei IV T 8, Böhmen, Nr. 137 aus 1782.
88 Kaiserliche Resolution vom 15.2.1782, ebenda.
89 Text des Toleranzpatentes für die Juden Mährens vom 13. Februar 1782 in : Iggers, Juden in Böh-
men und Mähren, S. 46f.
90 Vgl. dazu : Burger, Paßwesen, in : Grenze und Staat, S. 14. Zu den Transformationen des Josephinis-
mus siehe auch : Franz Leander Fillafer : Das Josephinische Trauma und die österreichische Auf-
klärung, in : Andras F. Bálogh/Helga Mitterbauer (Hg.) : Zentraleuropa – ein hybrider kultureller
Kommunikationsraum (Wien 2006), S. 63–85.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271