Page - 44 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Image of the Page - 44 -
Text of the Page - 44 -
44 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
In einigen Fällen gelang es Juden, deren Toleranz aus ökonomischen Gründen
nicht mehr verlängert worden war, durch die Antretung eines Amtes im gemein-
schaftlichen Dienst ihren Aufenthalt in Wien zu sichern (so im Fall des Elias Drach).
Doch im Allgemeinen sorgte das Judenamt dafür, dass verarmte Juden rigoros abge-
schoben wurden. Die noch bis ins Jahr 1795 möglich gewesenen Toleranzen auf Le-
benszeit hörten ganz auf. Toleranzen wurden fortan nur mehr auf maximal drei Jahre
vergeben. In manchen Fällen hob das Judenamt bestehende Toleranzen eigenhändig
auf.137 Die Vertreter der Wiener Juden protestierten wiederholt, doch vergeblich,
gegen Willkür und die Verschlechterung ihrer Aufenthaltsbedingungen. In einer Pe-
tition vom November 1796 forderten sie erstens : die Aufhebung der Gebühr für die
Aufenthaltsbollette von 30 Kreuzer, zweitens : die Zusicherung, »keine Verordnung
in Judensachen« ohne Hinzuziehung der Vertreter der Judenschaft kundzumachen,
drittens : dass »die tauglichen Religionsgenossen zu allen öffentlichen Bedienstungen
ohne Rücksicht auf die Religion angestellt werden«, viertens : »dass ihnen gestattet
werde, gleich den Christen alle Gattungen Realitäten an sich zu bringen« und fünf-
tens : »die jüdischen Doktoren der Medizin und der Rechte, welche auf irgendeiner
inländischen Universität graduiert sind, in die bestehenden Witwensozietäten«138
aufzunehmen. In der Stellungnahme der Hofkanzlei heißt es zu Punkt eins, dass,
da »die Verfassung Österreichs neben jenen, die hier geduldet werden, nun einmal
nicht geeignet sei, weitere Juden aufzunehmen«, es »ganz billig sei, dass die auf kurze
Zeit hierher kommenden Juden eine verhältnismäßige Zahlung leisten«. Zu Punkt
drei der Bittschrift gibt der Referent (Hofrat von Greiner) zu bedenken, »dass gar
kein Gesetz bestehe, welches die Juden von öffentlichen Ämtern ausschließe«, es
daher ganz überflüssig sei, eine schriftliche Versicherung zu geben. Zwar sei nicht zu
leugnen, so Greiner, dass ihre Jugend »in allen wissenschaftlichen Fächern gründli-
che Kenntnis sich zu erwerben befleißigt ist«, jedoch könne man die Meinung nicht
sich so prominente Namen wie der damals 33-jährige spätere Wiener Oberrabbiner Isaak Noah
Mannheimer (im Akt auch: Isak Noa), der im Jahr 1826, zusammen mit seiner aus Hamburg stam-
menden Ehefrau Elisabeth, aus Kopenhagen nach Wien kam, um hier zunächst provisorisch als
erster Religionslehrer seinen Dienst zu versehen. (Im Verzeichnis des Jahres 1826 findet sich die
Anmerkung, dass zwar »die Genehmigung zur Anstellung des I.M. Mannheimer von der hohen
Landesregierung noch nicht herabgelangt« sei, doch »er das Lehramt bereits provisorisch versieht«.)
Ebenso findet man den aus Hohenems kommenden Kantor Salomon Sulzer, der mit Hofdekret vom
22. Juli 1827 als erster Vorbeter bestellt wurde. Verzeichnisse derer in Gemeinschaftlichen Diensten
der hiesigen Tolerierten stehenden, 1826 und 1833. Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien,
K1. Die Bitte der Vertreter der Wiener Judenschaft an das Judenamt, eine Aufenthaltsbollette für
den »Vorzeiger” Sulzer gratis auszufolgen, findet sich abgedruckt in der Dokumentation : Hanoch
Avenary et al. (Hg.) : Kantor Salomon Sulzer und seine Zeit (Sigmaringen 1985), S. IV–VI.
137 Vgl. Max Grunwald, History of the Jews in Vienna (Philadelphia 1936), S. 137.
138 Eine Art Pensionskassa für die Hinterbliebenen.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271