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Das Heimatrecht der österreichischen Juden 71
Auch hier stellt sich zunächst die Frage, ab wann man von einem Heimatrecht
für Juden überhaupt sprechen kann, waren doch diese in ihrer Niederlassungsfrei-
heit – wie oben beschrieben – die längste Zeit hindurch äußersten Restriktionen
unterworfen. Nach einem Hofkanzleidekret vom 10. Jänner 1821 bewirkte aller-
dings die Erteilung der Toleranz bzw. einer Familienstelle, wie Friedrich Swieceny
ausdrücklich festhielt, sehr wohl »den Erwerbstitel der Ortszuständigkeit und die
Quelle, aus der alle Glieder der mit diesem Schutze ausgestatteten Familie das Hei-
matrecht für sich schöpfen«, was bedeutete, dass Juden, die an einem Ort beständig
toleriert waren, auch »zu dessen einheimischer Bevölkerung zu zählen« waren. Jene
Juden, die nur eine zeitweise und periodisch zu erneuernde Tolerierung genossen,
gehörten hingegen zur Bevölkerung jenes Ortes, wo sie selbst oder ihre Familie im
Besitz einer Familienstelle waren.237
Da die Toleranz jedoch nur gegen eine jährlich zu entrichtende hohe Gebühr ver-
geben wurde238, blieb die Aufnahme in den Gemeindeverband in der Praxis nur sehr
wohlhabenden Juden vorbehalten. Zahllose Dekrete regelten in restriktiver Weise
die Niederlassung von Juden und Jüdinnen (Witwen), deren Toleranz abgelaufen
war, von jüngeren Söhnen, die nicht im Besitz einer Familienstelle waren, von jü-
dischen Ärzten, Waisen etc.239 Erst in den 1830er-Jahren wurde die Praxis liberaler.
Den Ortsgemeinden und Städten blieb es nun selbst überlassen, über die Ansiedlung
von Juden zu entscheiden.240
Leitendes Prinzip des Heimatrechts war es, dass grundsätzlich jeder Staatsbürger
einer und nur einer Gemeinde angehören sollte. Erworben wurde das Heimatrecht
ordentlich erworben oder als unbehauste Innwohner ihr Gewerbe oder Profession getrieben oder so
gestaltig bis zur erfolgten Mühseligkeit (Verarmung) die gemeine Last mitzutragen geholfen haben,
b) jene, welche entweder bei einer Gemeinde oder bei Privaten an einem Orte durch 10 Jahre in
Diensten gestanden sind,
c) solche, die zwar ebenfalls 10 Jahre in einem andern als ihrem Geburtslande entweder durch
Dienstleistung oder auf eine andere Art ihr Brot erworben, jedoch durch dies Zeit nicht an einem,
sondern mehreren Orten des Landes sich aufgehalten haben«. Zit. nach : Ingobert Goldemund/
Kurt Ringhofer/Karl Theuer : Das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht (Wien 1969), S. 568.
237 Friedrich Swieceny : Das Heimatrecht in den österreichischen Kronländern mit constituierten
Ortsgemeinden (Wien 1861), Einleitung § 18.
238 Über die Erteilung der Toleranz in Wien und Niederösterreich vgl. Barth-Barthenheim, Gesetzes-
kunde, S. 40f.
239 Franz Tobias Herzog : Sammlung der Gesetze über das politische Domizil im Kaiserthume Öster-
reich (Wien 1837), S. 120ff.
240 »Diejenigen Juden, welche sich in dem Falle des § 51 des Judenpatents vom J. 1797 befinden, kann
der Aufenthalt außer dem Orte der Familie, zu der sie gehören, nur dann gestattet werden, wenn
die Obrigkeit des Ortes, wo sie sich anzusiedeln wünschen, ihre Zustimmung gibt, was auch von
den Städten zu gelten hat.«, Hofentschließung vom 18. März 1835, zit. nach : Herzog, Politisches
Domizil, S. 172f.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271