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Das Heimatrecht der österreichischen Juden 73
galt
– entsprechend dem Grundsatz der Märzverfassung, dass der Genuss der bürger-
lichen und politischen Rechte vom Religionsbekenntnis unabhängig sei (§ 1)
– auch
für die österreichischen Juden. Da wenige Tage später Juden auch die Haus- und
Grundbesitzfähigkeit zugestanden wurde (siehe oben), konnten Juden nun das volle
Bürgerrecht in einer Gemeinde erlangen. Die alten Judenordnungen waren damit
aufgehoben.
Die Bestätigung der Aufnahme durch die Gemeinde erfolgte mittels des mit dem
provisorischen Gemeindegesetz eingeführten Heimatscheins. Der Heimatschein
wurde für seinen Besitzer (oder seine Besitzerin) fortan nicht nur zum Beweismittel
der »Zuständigkeit«, sondern auch zum Ausweis seiner/ihrer Identität. Darüber hin-
aus erfüllte er zahlreiche weitere Funktionen, darunter die eines Inlandsreisepasses.246
Mit der Heimatrechtsgesetzgebung nach 1849 erfolgte insgesamt eine staatsrecht-
liche Schließung. Seit dem Gemeindegesetz von 1859 galt : »Nur Staatsbürger kön-
nen das Heimatrecht erwerben. Jeder Staatsbürger soll in einer Gemeinde heimat-
berechtigt sein«.247 Weiters wurde bestimmt, dass das Heimatrecht nicht mehr, wie
zuvor, stillschweigend durch vierjährigen Aufenthalt erworben wurde, sondern nur
noch nach ausdrücklichem Beschluss des Gemeindeausschusses. Allerdings bestand,
wenn der Bewerber (oder in seltenen Fällen die Bewerberin) alle Bedingungen er-
füllte, ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung, und es gab – im Falle der Verweige-
rung – eine Berufungsinstanz.248 Wegen der mit dem Heimatrecht verbundenen
armenrechtlichen Versorgungsansprüche wehrten sich Gemeinden jedoch immer
häufiger, mittellose Neubürger aufzunehmen. Zunehmend wurde seitens der Ge-
meinden ein Ausweis von Vermögen gefordert, eine Bedingung, die ein Hofkanzlei-
dekret von 1816 einst ausdrücklich zurückgewiesen hatte.249 Zudem verloren Juden
nach der Aufhebung der oktroyierten Märzverfassung wieder das Grundbesitzrecht
und damit eine wesentliche Möglichkeit, das Heimat- und Bürgerrecht in einer
Ortsgemeinde zu erwerben.
Eine weitere Reform des Heimatrechts im Jahr 1863 verwirklichte eine Grundfor-
derung des liberalen Bürgertums, nämlich »die völlige Freiheit der Gemeinde, den
Kreis ihrer Angehörigen zu bestimmen«.250 Zwar änderte sich an den bestehenden
Erwerbsarten kaum etwas, doch mit § 8 des Gesetzes wurde (außer bei Geburt und
Heirat) jeder Rechtsanspruch ausgeschlossen.251 Somit hatten die Gemeinden die
246 Vgl. Swieceny, Heimatrecht S. 44–47.
247 § 2 des Gemeindegesetzes von 1859, zit. nach : Goldemund, Staatsbürgerschaft, S. 603f.
248 § 39 des Gemeindegesetzes vom 24. April 1859, RGBl. Nr. 58/1859.
249 Vgl. Burger, Staatsbürgerschaft, S. 165.
250 RGBl. Nr. 105/1863. Vgl. Klabouch, Gemeindeverwaltung, S. 69.
251 »Das Heimatrecht wird durch ausdrückliche Aufnahme in den Heimatverband erworben. Über
das Ansuchen hierum entscheidet mit Ausschluß jeder Berufung die Gemeinde.«, § 8 des Heimat-
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271