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84 Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs
diesen Befund und weist bei etwa einem Sechstel der in den Jahren 1784–1880 in
Währing bestatteten Juden und Jüdinnen einen Geburtsort in Mähren aus.287 Marsha
Rozenblit spricht anhand der Analyse von Geburts- und Heiratsdaten der Wiener
Juden von drei sich überlappenden Wellen jüdischer Zuwanderung : einer böhmisch-
mährischen, einer ungarischen und einer galizischen.288 Und zuletzt bestätigt auch
meine Analyse der Wiener Einbürgerungsprotokolle die schon bei Ivar Oxaal und
Walter Weitzmann ausgesprochene Vermutung, dass es sich bei der jüdischen Zuwan-
derung nach Wien überwiegend um eine kleinräumige, sich aus dem unmittelbaren
»Hinterland« speisende handelt.289 Nach diesen Einbürgerungsprotokollen stammt
ein Großteil der jüdischen Migranten aus jener schmalen, halbmondförmigen Sichel,
die sich aus den autonomen Judengemeinden Südmährens, den oberungarischen
(westslowakischen) und den sieben ungarischen (burgenländischen) Gemeinden
bildete.290 Darüber hinaus wird aus den Protokollen deutlich, dass es sich in vielen
Fällen um eine Remigration (manchmal der zweiten oder dritten Generation) von
in der Toleranzepoche wegen Nichtbesitzes oder Nichtverlängerung der »Toleranz«,
wegen Fehlens einer Familienstelle (bei Juden aus Böhmen und Mähren) oder wegen
»Überzähligkeit« zur Migration nach Ungarn gezwungener Juden handelt.291 Häu-
fig waren die vermeintlichen Neu-Wiener schon vor ihrer endgültigen Niederlassung
in vielfältiger Weise mit Wien verbunden. So existierten bis 1848 die »Platzsteher«,
meist Textilhändler, die sich während der Woche in Wien aufhielten und ihren Ge-
schäften nachgingen, um am Freitag zu ihren Familien nach Pressburg/Bratislava oder
einer der »sieben Gemeinden« zurückzukehren.292 Zu ihnen mag auch der 1851 in
287 Tina Walzer : Mährische Juden in Wien 1784–1874. Ein Forschungsbericht, in : David – Jüdische
Kulturzeitschrift, www.david.juden.at/kulturzeitschrift.
288 Marsha L. Rozenblit : The Jews of Vienna, 1867–1914 : Assimilation and Identity (Albany, 1983),
S. 21 ; deutsche Ausgabe : Die Juden Wiens 1867–1914. Assimilation und Identität (Wien/Köln/
Graz 1988), S. 43.
289 Ivar Oxaal/Walter R. Weitzmann : The Jews of Pre-1914 Vienna. An Exploration of Basic Sociolo-
gical Dimensions, in : Leo Baeck Institute Year Book XXX (1985), S.
393–432. Von mir untersucht
wurde der Bestand Einbürgerungsprotokolle im Wiener Stadt- und Landesarchiv, Hauptreg. P 1.
290 Die sogenannten »Sieben Heiligen Gemeinden« (hebräisch : Scheva Kehillot) waren jüdische An-
siedlungen auf Esterházy’schem Grund und setzten sich zusammen aus : Kittsee, Frauenkirchen,
Eisenstadt, Mattersburg, Kobersdorf, Lackenbach und Deutschkreutz. Vgl. J. Reiss (Hg.) : Aus den
sieben Gemeinden. Ein Lesebuch über Juden im Burgenland (Eisenstadt 1997).
291 Dies ergab sich u. a. aus dem häufigen Auseinanderfallen von Geburtsort und »politischer Zustän-
digkeit« (Heimatrecht), etwa wenn, wie im Falle Jakob Kaposi, der Geburtsort in Leipnik/Lipník,
Mähren, lag, die politische Zuständigkeit aber in Pucho/Trenscsin (Ungarn) gegeben war (WStLA,
Hauptreg. P1, Nr. 9023/86), oder, im Falle des Samuel Rosenberg, der 1842 in Nikolsburg/Mikulov
geboren wurde, aber im Jahr 1884, als er sich um die österreichische Staatsbürgerschaft bewarb, in
Bonyhad, Ungarn, zuständig war. WStLA, Hauptreg. P 11, Nr. 37740/84 (viele weitere Fälle).
292 Vgl. Elisabeth Campagner : Judentum, Nationalitätenprinzip und Identität. Die jüdische Revolu-
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271