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Die dualistische Verschärfung 87
Ungarn möglich war, zugleich ungarischer und Staatsbürger »der im Reichsrat vertre-
tenen Königreiche und Länder« zu sein, nicht aber umgekehrt.302
Das ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz von 1879 dürfte somit ein wesentlicher
Grund für den seit den 1880er-Jahren besonders hohen Anteil ungarischer Juden an
den Einbürgerungsverfahren in der österreichischen Reichshälfte sein.303 Viele der-
jenigen, die nach dem Ausgleich, teilweise aber schon in den frühen 1860er-Jahren
–
als nach dem Ende des Neoabsolutismus die jetzt auch Juden gewährte Gewerbe-
freiheit, das Grundbesitzrecht und der Zugang zu zuvor verbotenen Berufen (Nota-
riat, Apotheker) eine Chance zu Aufstieg und Erfolg boten
– nach Wien gekommen
waren, fanden sich nun nicht mehr nur im heimatrechtlichen Sinn als »Fremde«,
sondern staatsrechtlich als »Ausländer« behandelt und sahen, um ihre erfolgreiche
Integration nicht zu gefährden, spätestens jetzt den Zeitpunkt gekommen, die öster-
reichische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Zwar wurden die Angehörigen der bei-
den Reichshälften wechselseitig im Allgemeinen nicht als Ausländer bezeichnet (und
empfanden sich in dem meisten Fällen wohl auch nicht als solche304), doch hatte das
österreichische Innenministerium anlässlich einer ungarischen Beschwerde verfügt,
dass ungarische Staatsbürger bei der Aufnahme in eine österreichische Gemeinde
(der Erteilung des Heimatrechts) »wie andere Auswärtige« zu behandeln seien.305
Aus Ungarn stammende Juden hatten sich also dem gleichen komplizierten Auf-
nahmeverfahren zu unterziehen wie andere Ausländer auch. Als der 33-jährige, in
Gyömrö (Ungarn) geborene, ledige jüdische Handelsagent Gabriel Spitzer im Fe-
bruar 1883 um Aufnahme in die österreichische Staatsbürgerschaft ansuchte, zog
dies ein langwieriges Verwaltungsverfahren nach sich. Dem bei seiner Einvernahme
vor dem Magistrat der Stadt Wien aufgenommen Protokoll lässt sich entnehmen,
dass Spitzer bereits seit dem Jahr 1866, also seit 16 Jahren, ununterbrochen in Wien,
und zwar im zweiten Bezirk ansässig war, sein Gewerbe dort ausübte, aber noch
immer nach Budapest »zuständig« (heimatberechtigt) war. Nachdem der Vorsteher
seines Wohnbezirks dem Bittsteller nach »gepflogenen Erhebungen« bescheinigt,
»sich in geordneten Verhältnissen« zu befinden und dessen Gesuch befürwortet
hatte, erfolgte am 1. August 1884 die Zusicherung der Aufnahme in den Gemein-
deverband der Stadt Wien. Die notwendige Entlassung aus dem ungarischen Staats-
302 Vgl. Milner, Österreichische Staatsbürgerschaft, S. 83.
303 Zwischen 1893 und 1902 wurde insgesamt 5326 Personen jüdischer Konfession die österreichische
Staatsbürgerschaft erteilt. 4481 davon stammten aus Ungarn. Umgekehrt wurden 1510 Juden aus
dem österreichischen Staatsverband nach Ungarn entlassen. Vgl. Thon, Juden, S. 53.
304 Thon bezeichnet die in Cisleithanien lebenden ungarischen Juden zu Recht als »Bindeglied« zwi-
schen den beiden immer weiter auseinanderdriftenden Reichshälften. Vgl. Thon, Juden, S. 50.
305 Erlass des Ministeriums des Innern vom 7. Dezember 1870, Zl. 15 115, zit. nach : Milner, Öster-
reichische Staatsbürgerschaft, S. 91.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271