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Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 89
verbunden.309 So beantragte etwa der aus Sebes-Kellemes (Ungarn) stammende
Alexander Strakosch nach bereits zwanzigjährigem Aufenthalt in Wien im März
1886 die österreichische Staatsbürgerschaft, um eine Professur für Rhetorik am
Konservatorium der Stadt Wien antreten zu können310, ebenso der 31-jährige,
nach Deutschkreuz zuständige, Advokaturanwärter Dr. Markus Blau, der sich um
eine Stelle als Verteidiger in Strafsachen beworben hatte.311
Für selbständig Tätige war die Staatsbürgerschaft zur Ausübung ihres Berufes
grundsätzlich keine Voraussetzung. So finden sich unter den erfolgreichsten jüdi-
schen Unternehmerpersönlichkeiten – etwa Angehörigen der Familie Ephrussi –
solche, die trotz jahrzehntelangen Aufenthalts in Wien und oft unter Beweis ge-
stellter Loyalität zum Kaiserhaus ihre ausländische Staatsbürgerschaft behielten.312
Dennoch finden sich unter den Einbürgerungswerbern auch sehr viele Selbständige
wie Anwälte und Mediziner, etwa der aus Budapest stammende praktische Arzt und
Herausgeber der Wiener medizinischen Blätter, Dr. Wilhelm Schlesinger, der nach
25-jährigem Aufenthalt in Wien, zusammen mit seiner Ehefrau Emma und seinen
fünf in Wien geborenen Kindern, am 24. Februar 1887 die österreichische Staats-
bürgerschaft erhielt.313 In diesem, wie in vielen anderen Fällen, scheint die Motiva-
tion für die Beantragung der Staatsbürgerschaft nicht so sehr in der eigenen Person,
sondern vielmehr in der rechtlichen und sozialen Absicherung der Kinder gelegen
zu haben, war doch mit dem Staatsbürgerschaftserwerb immer auch der Erwerb des
Heimatrechts in einer österreichischen Gemeinde und damit eine armenrechtliche
Grundversorgung sowie der Schutz vor Abschiebung verbunden.
Neben Ärzten, Anwälten und Fabrikanten finden sich in den Protokollen aber
auch viele traditionelle Handwerksberufe : Schneider, Tapezierer, Schumacher, Pfei-
fenschneider etc. Der hohe Anteil von Selbständigen an den Einbürgerungen von
Juden verdankt sich dem Umstand, dass nach dem Staatsgrundgesetz Juden zwar
grundsätzlich alle Ämter offen standen, doch ein ungeschriebenes Gesetz es wollte,
309 Genauer dazu : Hannelore Burger, Passwesen und Staatsbürgerschaft, in : Heindl/Saurer (Hg.) Grenze
und Staat, S. 127.
310 WStLA, Hauptreg. P 11, Nr. 54836/86.
311 WStLA, Hauptreg. P 1, Nr. 59960/85.
312 Edmund de Waal schildert in seiner Familiengeschichte der Ephrussi (einer ursprünglich aus Odessa
stammenden Familie, die eines der erfolgreichsten Bank- und Handelshäuser Europas führte) »Der
Hase mit den Bernsteinaugen«, dass das österreichische Familienoberhaupt, Viktor Ephrussi, erst
im Jahr 1914, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, als 84-Jähriger den Zaren um seine Entlassung
aus der russischen Staatsangehörigkeit bat und österreichischer Staatsbürger wurde, und zwar aus
Sorge vor einer eventuellen Einziehung seines Sohnes zum Militärdienst in Russland. Edmund de
Waal : Der Hase mit den Bernsteinaugen. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi (Wien 2011),
S. 186.
313 WStLA, Hauptreg. P 1, Nr. 199800/85.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271