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Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 129
mit höchster Intensität im Namen der Nation geführt wurden, verfolgten, wie Tara
Zahra bemerkt, das Ziel »to nationalize even wider circles of nationally ambivalent
children and families«456 – keineswegs immer erfolgreich : Gerade Eltern jüdischer
Kinder (vor allem in Mähren) ließen sich nur schwer davon überzeugen, dass etwa
Schulen deutscher Unterrichtssprache bzw. die Kenntnis der zweiten Landessprache
ihre Kinder existentiell bedrohen bzw. ihren Charakter schädigen würde.457
Gewiss hat der Ausgleich (in Mähren 1905, in der Bukowina 1910 und in Gali-
zien 1914) bewiesen, dass der Sprachenkampf grundsätzlich schlichtbar und die Na-
tionalitätenfrage in Cisleithanien im Prinzip lösbar waren. Auch hinsichtlich einer
Lösung der Ende der 1890er-Jahre wiedererstandenen Judenfrage lieferte die Aus-
gleichsbewegung – zumindest für nationalbewusste oder zionistisch gesonnene Ju-
den
– durchaus kreative Lösungsansätze, doch für die Mehrheit der österreichischen
Juden blieb der Ausgleich mit seinen Tendenzen des Zwangs zu einem nationalen
Bekenntnis, der Entstehung homogener Nationalgesellschaften und des damit ein-
hergehenden Verlusts von Mehrsprachigkeit und multiplen Identitäten ein Instru-
ment von äußerster Ambivalenz.458 Die meisten Juden standen mehr zwischen den
verschiedenen Nationalitäten als in ihnen, doch gleich welche Sprache sie sprachen,
gleich welcher Nationalität sie sich (zeitweise) verbanden, gleich welcher politischen
Partei sie sich zugehörig fühlten, fast alle Juden bewahrten dem österreichischen
Staat mit seiner liberalen Verfassung, vor allem aber der Person des Kaisers als Ga-
rant ihrer Rechte, ihre unerschütterliche Loyalität.459
456 Zahra, Reclaiming Children, S. 503.
457 Tara Zahra : Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian
Lands, 1900–1948 (Ithaca/London 2008), S. 19.
458 Vgl. Hannelore Burger : Die »jüdische Frage« zwischen den Ausgleichsbewegungen in Mähren, der
Bukowina und Galizien, in : Fasora/Malíř : Der Mährische Ausgleich von 1905, a.a.O., S. 71–86.
459 Vgl. Cohen, Citizenship, S. 221.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271