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Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 133
gewesen, so folgten die Staatsbürgerschaftsrechte der neuen Republiken überwie-
gend einer nationalstaatlichen, ethnisch exklusiven Logik.473
Auch wenn die Frage der Staatsbürgerschaft ihre endgültige Regelung im We-
sentlichen erst in den Staatsverträgen von St-Germain (1919) und Trianon (1920)
fand, versuchten doch alle Nachfolgestaaten, ihr Territorium sowie ihre Staatsbür-
ger und Staatsbürgerinnen zunächst selbst zu bestimmen. So erklärte sich die am
12. November proklamierte »Republik Deutschösterreich« bloß einige Tage später
zum Souverän über »das geschlossene Siedlungsgebiet der Deutschen innerhalb der
bisher im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder« – ein Gebiet, das mit
»Deutschböhmen« und »Deutsch-Südmähren« weit über das Territorium der spä-
teren Republik Österreich hinausreichte. Gleichzeitig erhob sie Ansprüche auf alle
»Deutschen« in den größeren Sprachinseln der Nachfolgestaaten Cisleithaniens und
Westungarns, u. a. in den »deutschen Siedlungsgebieten« von Brünn, Iglau/Jíhlava
und Olmütz/Olomouc.474
In einem ersten Entwurf für ein Staatsbürgerschaftsgesetz für die »Republik
Deutschösterreich« war die Staatsbürgerschaft grundsätzlich von der Heimatberech-
tigung in einer auf dem Territorium der Republik gelegenen Gemeinde abhängig
gemacht worden.475 Damit allerdings wären all jene Einwohner, die das Heimatrecht
in einer Gemeinde eines anderen ehemaligen Kronlandes der Monarchie besaßen,
automatisch zu Ausländern geworden, selbst dann, wenn sie schon immer im von
der Republik beanspruchten Territorium gelebt hatten. Diese Personen hätten je-
doch durchaus die Möglichkeit erhalten sollen, Staatsbürger zu werden, indem sie
spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes die Zusicherung der Aufnahme
in den Heimatverband einer deutschösterreichischen Gemeinde vorlegten. Bei dieser
473 Vgl. Gammerl, Untertanen, S. 328. Dietmar Müller spricht mit Bezug auf die rumänische Volks-
gruppe zutreffend davon, dass sich seit dem Berliner Kongress bis zur Pariser Friedenskonferenz
Argumentationsmuster durchgesetzt hätten, »mit denen die eigene ethnische Gruppe (…) in einer
ethnisch-ontologischen Alterität hauptsächlich zu den Juden des Landes konstruiert wurde«, an
anderer Stelle von einem (rumänischen) »Nationscode« unter Ausschluss der Juden. Vgl. Dietmar
Müller : Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und
serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte 1878–1941 (= Balkanologi-
sche Veröffentlichungen 41) (Wiesbaden 2005), S. 211.
474 Staatserklärung vom 22. November 1918 über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebie-
tes von Deutschösterreich, Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich (StGBl) 1918/41. Vgl.
Goldemund/Ringhofer/Theurer, Staatsbürgerschaftsrecht, Anm. 1, S. 413f.
475 Der erste Entwurf für das Staatsbürgerschaftsgesetz der Republik Deutschösterreich stammt von
Anfang November 1918. Zu den Debatten um Heimatrecht und Staatsbürgerschaft der Ersten
Republik vgl. Margarete Grandner : Staatsbürger und Ausländer. Zum Umgang Österreichs mit
den jüdischen Flüchtlingen nach 1918, in : Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im
europäischen Kontext seit 1914 (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Ge-
schichte und Gesellschaft 25) (Wien 1995), S. 60–85, hier : S. 62.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271