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Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 137
Die dem Staatsbürgergesetz von 1918 zugrundeliegenden Vorstellungen bildeten
endlich auch die Grundlage für die im Rahmen der Pariser Friedensverhandlungen
vorgenommene Abwicklung der altösterreichischen Staatsbürgerschaft. Die österrei-
chische Delegation unter Führung Staatskanzler Renners schlug – entgegen einer
von den Alliierten eingebrachten Vorlage – vor, dass grundsätzlich jeder Bürger der
früheren österreichisch-ungarischen Monarchie jenem Staate angehören sollte, in
dem sich die Gemeinde befand, in der er heimatberechtigt gewesen war. Darüber
hinaus jedoch sollten sowohl »die Bewohner der strittigen und einer Volksabstim-
mung unterworfenen Gebiete« als auch »Personen fremder Rasse und Sprache« jenen
Staat durch Option zur Heimat wählen können, »dem sie nach Rasse und Sprache
angehören«.488 Nach langen Verhandlungen übernahmen die Siegermächte – unter
Aufrechterhaltung des Prinzips der Reziprozität zwischen den Nachfolgestaaten –
schließlich weitgehend die österreichischen Vorschläge. Für alle Nachfolgestaaten
der österreichisch-ungarischen Monarchie galt nun gleichermaßen ein Optionsrecht
nach »Rasse und Sprache«.489 Der entsprechende Artikel 80 des Vertrages von St-
Germain-en-Laye vom 10. September 1919 lautet :
Personen, die in einem zur ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie ge-
hörigen Gebiet heimatberechtigt und dort nach Rasse und Sprache von der Mehr-
heit der Bevölkerung verschieden sind, können innerhalb eines Zeitraumes von
sechs Monaten nach dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages für Öster-
reich, Italien, Polen, Rumänien, den serbisch-kroatisch-slowenischen Staat oder
die Tschechoslowakei optieren, je nachdem die Mehrheit der Bevölkerung dort
aus Personen besteht, welche die gleiche Sprache sprechen und derselben Rasse
zugehörig sind wie sie.490
Hinsichtlich der Durchführung der Option versprach der Brünner Vertrag vom
7.
Juni 1920, diese »in liberaler Weise« regeln zu wollen und insbesondere die Worte
»par la race et la langue« (so der französische Originaltext) derart deuten zu wollen,
dass »hauptsächlich die Sprache als wichtigstes Kennzeichen der Volkszugehörigkeit
in Betracht gezogen werde.«491 In der Folge wurden tatsächlich Optionen von aus
dem nunmehrigen Staatsgebiet der Tschechoslowakei stammenden österreichischen
488 Zu den französischen Gegenvorschlägen siehe Grandner, Staatsbürger, S. 69 und Fußnote 56.
489 Vgl. Grandner, Staatsbürger, S. 70.
490 Zit. nach Goldemund/Ringhofer/Theurer, Staatsbürgerschaftsrecht, S. 422ff (Hervorhebung nicht
im Original). Siehe dazu : Kolonovits, Rechtsfragen, S. 47ff.
491 Artikel 9 des Vertrages zwischen der Tschechoslowakischen Republik und der Republik Öster-
reich über Staatsbürgerschaft und Minderheitsschutz vom 7. Juni 1920 (»Brünner Vertrag«), BGBl
1921/163, zit. nach : Goldemund/Ringhofer/Theurer, Staatsbürgerschaftsrecht, S. 453f.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271