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144 Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates
»Die schwere Bedrückung und die unmenschliche, an das tiefste Mittelalter erin-
nernde Behandlung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland, ihre soziale und
politische Ächtung, der gegen sie systematisch geführte wirtschaftliche Vernich-
tungskampf und die Sanktionierung ihrer Entrechtung durch die Gesetzesbe-
schlüsse des Nürnberger Reichstages haben in der Wiener jüdischen Bevölkerung
Mitgefühl und tiefste Entrüstung ausgelöst. Die Wiener Judenschaft protestiert
gegen die zur Begründung der judenfeindlichen Maßnahmen vorgeschützten
unwahren und böswilligen Anklagen. Sie richtet an das durch den Völkerbund
repräsentierte Weltgewissen, an alle an der Spitze der Staaten stehenden verant-
wortlichen Männer den Appell, die gegen die Juden gerichteten deutschen Ge-
setze (…) zu verurteilen, und erklärt sich feierlich mit allen Bestrebungen soli-
darisch, die eine Beseitigung der der gesamten Judenschaft angetanen Schmach
herbeiführen wollen.«513
Noch – so beweist diese Resolution – existierte unter den Vertretern der österreichi-
schen Juden ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens in die eigenen staatlichen
Institutionen, vor allem aber die große Sorge über die zunehmende Entrechtung
der Juden im Deutschen Reich. Ein Jahr später kam es zu heftigen Zwistigkeiten
zwischen der »jüdischnationalen« (zionistischen) Fraktion und den »vaterländisch
fühlenden« Angehörigen der Wiener israelitischen Kultusgemeinde (zionistische
Gruppierungen hatten bei den Wahlen 1932 die Mehrheit innerhalb der Kultus-
gemeinde erlangt).514 In einer Beschwerdeschrift vom 5. Februar 1936 hatten sich
die »Vaterländischen« über den zunehmenden Einfluss »ausländischer Juden« (Juden
ohne Heimatrecht in Wien) auf die Gebarungen der Kultusgemeinde beklagt und
deren aktives Stimmrecht bestritten. Die Beschwerde, in der die »Zurückdrängung
des Einflusses des in Österreich beheimateten positiv-religiös und vaterländisch füh-
lenden Teiles der Angehörigen der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde« beklagt
wurde, wurde jedoch mit einem Bescheid des Wiener Magistrats vom 12. Juni 1936
mit dem Verweis auf § 2 des Statuts zurückgewiesen, wonach »jeder Israelit, der in
Wien seinen ordentlichen Wohnsitz hat, ohne Rücksicht auf seine Heimatberechti-
gung und Staatsbürgerschaft der Wiener Kultusgemeinde« angehöre und »das aktive
Wahlrecht« besitze.515
513 Bericht des Präsidiums, S. 16.
514 Vgl. Gerald Stourzh : An Apogee of Conversions : Gustav Mahler, Karl Kraus, and fin de siècle Vi-
enna, in : From Vienna to Chicago and back. Essays on Intellectual History and Political Thought
in Europe and America (Chicago/London 2007), S. 224–247, hier : S. 225.
515 Bericht des Präsidiums, S. 19f. Bei den Wahlen von 1936 zur Wiener Kultusgemeinde machten erst-
mals über die Hälfte der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Vgl. Harriet Pass Freiden-
reich : Jewish Politics in Vienna 1918–1938 (Bloomington/Indianapolis 1991), S.
VII und 272.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271