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150 Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft
Deutschen Reich nach der Verkündung der Nürnberger Gesetze im Mai 1935 so-
gar zu einer gewissen Beruhigung gekommen war, da es dem nationalsozialistischen
Staat durch das Verbot von Willkürakten und das Versprechen, dem Schutzverband
des deutschen Volkes anzugehören, gelang, bei den Juden ein trügerisches Gefühl
der Sicherheit zu erzeugen (sodass die Auswanderung zeitweise sogar zurückging),
fiel die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich (im Mai 1938) in
die Zeit kurz nach dem Anschlusspogrom. Mit willkürlichen Verhaftungen, Plünde-
rungen, wilden »Arisierungen« und ungeplanten Grausamkeiten sollte nun Schluss
sein. Die im Mai gegründete »Vermögensverkehrsstelle« sorgte in Hinkunft für den
geordneten Zwangsverkauf von Betrieben und Unternehmungen im Zuge einer nun
legalen »Arisierung«. Bereits einen Monat zuvor war eine Verordnung in Kraft getre-
ten, nach der alle Juden ab einem Vermögen von 5000 Reichsmark bis zum 30. Juni
1938 ihr »gesamtes in- und ausländisches Vermögen anzumelden und zu bewerten«
hatten.535 Ein ausgefeiltes Verwaltungsverfahren sorgte dafür, dass Juden, die sich
zu einer Auswanderung entschlossen hatten, nach Abzug der »Reichsfluchtsteuer«,
angeblicher oder tatsächlicher Steuerrückstände sowie devisenrechtlicher Abzüge nur
noch ein Bruchteil ihres Vermögens blieb. Da es schon wenige Tage nach Kundma-
chung der Nürnberger Gesetze in Wien im Rahmen der sogenannten »Mai-Aktion«
erneut zu Verhaftungen, Verhören, Folterungen durch die Gestapo und zu Depor-
tationen nach Dachau kam536, war jedoch an eine geordnete Auswanderung kaum
mehr zu denken. Wer immer konnte, floh ins Ausland. Um diese Fluchtbewegung
bürokratisch zu unterstützen und im nationalsozialistischen Sinne zu steuern, wurde
am 20. August 1938 auf Veranlassung Reichskommissar Josef Bürckels die »Zent-
ralstelle für jüdische Auswanderung« begründet. Hier entwickelte Adolf Eichmann
sein »Wiener Modell«, eine Art bürokratisches Fließbandsystem, das die effiziente
Abwicklung der »Auswanderung« garantierte. Bereits ein Jahr nach Erlass der Nürn-
berger Gesetze hatte fast die Hälfte der österreichischen Juden das Land verlassen.537
GBlÖ 1938/513. Die Sechste Verordnung schloss die jüdischen Patentanwälte aus. Kundgemacht
in Österreich am 31. Oktober 1938, GBlÖ 1938/158.
535 Die Frist für die Anmeldung wurde später für deutsche Staatsangehörige bis 31. Juli, für ausländi-
sche Staatsangehörige bis 31. Oktober 1938 verlängert. Verordnung vom 26. April 1938, RGBl. I,
414f. und RGBl. I, 415f.
536 Vgl. Herbert Rosenkranz : Entrechtung, Verfolgung und Selbsthilfe der Juden in Österreich, in :
Gerald Stourzh/Birgitta Zaar (Hg.) : Österreich und die Mächte. Internationale und österreichische
Aspekte des »Anschlusses« vom März 1938 (= Veröffentlichungen der Kommission für die Ge-
schichte Österreichs 16) (Wien 1990), S. 367–417, hier : S. 383ff.
537 Nach einer im Auftrag Adolf Eichmanns in der Zentrale für jüdische Auswanderung erstellten
graphischen Übersicht verließen in den ersten neunzehn Wochen nach dem »Anschluss« 34 467
Juden das Land. Im Mai 1939 lebten nur noch 94 530 Juden (im Sinne der Nürnberger Gesetze)
in Österreich. Vgl. Burger/Wendelin, Staatsbürgerschaft und Vertreibung, S. 285.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271