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164 Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft
(bis dahin waren die deportierten »Reichsjuden« in den Ghettos von Łódź und
Minsk interniert worden).600 Nach Browning bezeichnet das Datum des 25. No-
vember jenen point of no return, »an dem das NS-Regime offiziell die Linie über-
schritt«, die das politische Programm für die Aussiedlung und Ermordung der deut-
schen Juden von seiner tatsächlichen Umsetzung trennte.601 Der 25. November 1941
ist aber zugleich auch das Datum der Kundmachung der Elften Verordnung zum
Reichsbürgergesetz, die, so ist zu vermuten, ebenfalls Gegenstand der Besprechung
Himmlers mit Staatssekretär Stuckart gewesen war.
Tatsächlich beseitigte die Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz alle einer
»radikalen Lösung« noch entgegenstehenden Hindernisse. Ausbürgerung, Vermö-
gensentzug, Enterbung und Deportation waren nun harmonisiert. Auf Anordnung
des Reichssicherheitshauptamtes wurde darüber hinaus die Verfügungsgewalt von
Juden über ihr bewegliches Vermögen aufgehoben. Damit waren die »rechtlichen«
Voraussetzungen für die »Endlösung« geschaffen. Im Gegensatz zu den schon früher
möglichen strafweisen Ausbürgerungen, die noch mit einem ordentlichen Verfahren
durchgeführt und bescheidmäßig festgestellt werden mussten, war die Ausbürge-
rung nach der Elften Verordnung unmittelbar nach ihrem Inkrafttreten ipso facto
wirksam. Festgestellt wurde sie in einem polizeilichen Verfahren, an dem der Reichs-
statthalter, das Polizeipräsidium und die Geheime Staatspolizei beteiligt waren. Die
Rechtsfolgen der Aberkennung der Staatsbürgerschaft waren so gewaltig – neben
dem Vermögensverfall auch der Verlust von Versorgungs- und Hinterbliebenenan-
sprüchen –, dass, wie in vielen anderen Bereichen auch, die Nationalsozialisten um
Aufrechterhaltung des Scheins der Legalität ihrer Maßnahmen bemüht waren. Nach
ihren eigenen Gesetzen konnte die Konfiskation des Vermögens nämlich erst dann
vorgenommen werden, wenn der Aufenthaltsort bzw. das Datum der Ausreise (jetzt
nur mehr die Deportation) amtlich festgestellt und die erfolgte Ausbürgerung an das
Reichssicherheitshauptamt in Berlin weitergemeldet worden war.602
Wird die Elfte Verordnung von den meisten Historikern vor allem in Zusammen-
hang mit der Beraubung der Juden gesehen (dem Vermögensentzug)603, möchte ich
hier ihren Charakter als Instrument im langen und mit unglaublicher juridischer
Finesse betriebenen Prozess der Entrechtung und Depersonalisierung betonen. Er
beginnt mit der Erklärung der Juden zu Staatsangehörigen minderen Rechts im Rah-
600 Vgl. Browning, Judenmord, S.
77 sowie auch Florian Freund/Hans Safrian : Die Verfolgung der ös-
terreichischen Juden 1938–1945. Vertreibung und Deportation, in : Emmerich Tálos et al. (Hg.) :
NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2000), S. 767–794, hier : S. 775.
601 Vgl. Browning, Judenmord, S. 77.
602 Vgl. Burger/Wendelin, Staatsbürgerschaft und Vertreibung, S. 47f.
603 Etwa bei Cornelia Essner : Die ›Nürnberger Gesetze‹ oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–
1945 (Paderborn/München 2002), S. 296ff u. 310.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271