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Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 167
rechtlicher Relevanz. So war zwar im Bereich der materiellen Rückstellungen (über-
wiegend von Haus- und Grundbesitz im Rahmen der sieben Rückstellungsgesetze)
keine Bindung an eine bestehende österreichische Staatsbürgerschaft gegeben, doch
im Bereich der Opferfürsorgegesetze wie auch bei manchen sozialversicherungs-
rechtlichen Regelungen wirkte sich der Mangel der Staatsbürgerschaft negativ aus.
»Amtsbescheinigungen« und »Opferausweise«, die Zugang zu bestimmten Wieder-
gutmachungsleistungen erwirkten, blieben allein österreichischen Staatsbürgern vor-
behalten. Vertriebenen österreichischen Juden, die nach 1938 hatten fliehen müssen
und später eine andere Staatsbürgerschaft angenommen hatten, blieb der Zugang zu
Leistungen aus der Opferfürsorge verwehrt.607 Somit war gerade die zahlenmäßig
größte Gruppe von Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes von wesentlichen
Hilfs- und Entschädigungsleistungen weitgehend ausgeschlossen.608 Doch auch im
Bereich des Sozialversicherungsrechts (ASVG), etwa bei der Pensionsversicherung,
ist der Besitz bzw. Nichtbesitz der Staatsbürgerschaft von unmittelbar finanzieller
und sozialrechtlicher Relevanz.609
Dass eine Remigration österreichischer Juden nach 1945 nur vereinzelt stattfand,
lässt sich – neben anderen Ursachen – auch auf die unübersichtliche und unzurei-
chende Staatsbürgerschaftsgesetzgebung zurückführen. Verschiedene Untersuchun-
gen kommen – mit leichten Modifikationen – zu dem Schluss, dass von den etwa
110 000 überlebenden jüdischen Vertriebenen bis Ende 1947 nur etwa 5000 nach
Österreich zurückkehrten.610 Unter diesen befanden sich jedoch rund 3000 Über-
lebende der Konzentrationslager sowie 800 Rückkehrer aus Shanghai, die gar keine
andere Wahl hatten als nach Österreich zurückzukehren.611 Unter den etwa 1200
freiwilligen Remigranten waren viele alte, gesundheitlich geschwächte Menschen,
die im Emigrationsland keine neue Existenz hatten aufbauen können, bzw. han-
delte es sich um Personen, die sich bereits vor 1938 oder in der Emigration politisch
betätigt hatten, am Widerstand beteiligt oder für die Wiedererrichtung Österreichs
607 Vgl. Brigitte Bailer-Galander : Die Opfer des Nationalsozialismus und die sogenannte Wiedergut-
machung, in : Emmerich Tálos et. al. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich (Wien 2000), S.
884–901,
hier : S. 891f.
608 Bailer-Galander, Opfer, S. 892.
609 Vgl. Walter J. Pfeil : Die Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus im österreichischen
Sozialrecht (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 29/1) (Wien/Mün-
chen 2004), S. 286ff.
610 Friederike Wilder-Okladek : The Return movement of Jews to Austria after the second World War
(Den Haag 1969), siehe auch die Diagramme 9, 10 und 11 von Harald Wendelin, die die Zusam-
mensetzung der Remigranten bis 1950 exakt aufschlüsseln, in : Burger/Wendelin, Staatsbürgerschaft
und Vertreibung, S. 430f.
611 Vgl. Françoise Kreissler : Retour ou rapatriement de Shanghai ? Spécificités des contextes politiques
(1945–1949), in : Austriaca (2003), 56, S. 89–100.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271