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Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 171
chischen Juden zurückzuholen. So wurden in den zahlreich geführten Debatten im
österreichischen Ministerrat die in alle Welt verstreuten jüdischen Vertriebenen ent-
weder gar nicht, oder wenn doch, dann als Fremde, als Angehörige einer anderen
Nation, als die »Judenschaft« erwähnt, nicht aber als willkommene, erwünschte oder
dringend benötigte Rückkehrer. Der – nach Durchsicht der Ministerratsprotokolle
der Jahre 1946 bis 1980 – ernüchternde Befund lautet : Alle von den Regierungen
getroffenen gesetzlichen Maßnahmen, die der Wiedereinbürgerung ehemaliger
Öster reicherinnen und Österreicher dienten, zielten intentional auf andere Gruppen
als die vertriebenen österreichischen Juden624 : vor allem auf die Gruppe der aus
politischen Gründen Verfolgten, auf die Gruppe der sogenannten »reichsdeutschen
Frauen« (die ihre österreichische Staatsbürgerschaft durch Eheschließung mit einem
Deutschen verloren hatten), bald auch auf (minderbelastete) ehemalige National-
sozialisten. Profitierten die aus »rassischen Gründen« Verfolgten dennoch von einzel-
nen Gesetzesbestimmungen, geschah dies gleichsam aus Versehen.
Ein Bewusstsein dafür
– und in der Folge eine veränderte Haltung gegenüber den
österreichischen Überlebenden des Holocausts – entstand erst Anfang der 1990er-
Jahre, als es im Zuge der sogenannten »Waldheim-Krise« zu einem paradigmatischen
Wechsel in der Betrachtung der österreichischen Nachkriegsgeschichte kam. Die
zumindest partielle Aufgabe der sogenannten »Opferthese«, das zunehmende Be-
wusstseins einer Gleichzeitigkeit von Opferstatus und Tätersein und einer zumindest
»moralischen Mitverantwortung«
– so die Formel in einer Erklärung Bundeskanzler
Franz Vranitzkys vom 8. Juli 1991 – Österreichs für das Schicksal seiner jüdischen
Bevölkerung, hatte auf der politisch-praktischen Ebene u. a. eine neuerliche Novel-
lierung des Staatsbürgerschaftsgesetzes im Jahr 1993 zur Folge. Erstmals konnten
Vertriebene nun ihre verlorene österreichische Staatsbürgerschaft durch einfache Er-
klärung zurückerhalten, ohne Antragstellung, ohne Wohnsitzbegründung, vor allem
aber ohne die erworbene Staatsbürgerschaft des Emigrationslandes aufgeben zu müs-
sen. Von dieser Möglichkeit machten bis Ende 2001 1838 Personen Gebrauch, rund
10 Prozent aller Anspruchsberechtigten.625 Verglichen mit der geringen Zahl von
Wiedereinbürgerungen in den vorangegangenen Jahrzehnten war dies zweifellos ein
624 Vgl. dazu auch : Sternfeld, Betrifft : Österreich, S.
250f u. 272 sowie Robert Knight (Hg.) : »Ich bin
dafür, die Sache in die Länge zu ziehen.« Die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung
von 1945 bis 1952 über die Entschädigung der Juden (Wien 2000), S. 46ff.
625 Nach einer Berechnung von Harald Wendelin entsprechend den Angaben der Magistratsabteilung
61. Vgl. Burger/Wendelin, Staatsbürgerschaft und Vertreibung, S. 402 sowie Tabelle 1, S. 401.
Danach sanken die Zahlen der nach § 58c der Staatsbürgerschaftgesetznovelle 1993 Wiedereinge-
bürgerten kontinuierlich ab. Im Jahr 2002 betraf diese Form des Staatsbürgerschaftserwerbs noch
42 Personen, im Jahr 2010 nur mehr zehn Personen. Quelle : Statistik Austria : Einbürgerungen
1994 bis 2010 nach § 58c.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271