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Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 173
begeben«
– »eingesperrt und verschickt« eingesetzt hatte, war die rechtskundige, gut
über die neue Gesetzeslage informierte Anwältin und Notarin davon überzeugt, mit
ihrer Anzeige ihre – vermeintlich verlorene – österreichische Staatsbürgerschaft wie-
dererlangt zu haben. Doch die Enttäuschung folgte auf dem Fuß. Am 2. Februar
1996 wurde Martha Raviv von der Österreichischen Botschaft in Tel Aviv im Auf-
trag der Wiener Landesregierung darüber informiert, dass ihre Anzeige nicht zum
Wiedererwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft geführt habe. Sie sei – gemäß
den in Wien vorhandenen Unterlagen – nach ihrem Vater »in Polen heimatberech-
tigt« und habe sich somit nicht als österreichische Staatsbürgerin ins Ausland be-
geben – eine für Martha Raviv schockierende und zutiefst irritierende Mitteilung,
war sie doch in dem Bewusstsein aufgewachsen, einer österreichischen Familie zu
entstammen, von einer »polnischen Abstammung« war ihr nichts bekannt. Damit
war Martha Raviv nicht allein. Nur 85 Prozent der aus Österreich vertriebenen Ju-
den besaßen bei ihrer Flucht die österreichische Staatsbürgerschaft, der Rest, also
immerhin 15 Prozent, war entweder staatenlos oder besaß die polnische oder eine
andere Staatsbürgerschaft.628 Hintergrund dieses wenig und oft nicht einmal den
Kindern der Betroffenen bekannten Phänomens, war in vielen Fällen das sogenannte
Optionsrecht, das, entsprechend Artikel 80 des Staatsvertrags von St-Germain vom
10. September 1919, grundsätzlich allen Bürgern der zerfallenen Monarchie ermög-
lichen sollte, für einen der Nachfolgestaaten zu optieren. Optionen von aus Galizien
oder der Bukowina stammenden Juden allerdings wurden, wie oben beschrieben,
seitens der Ersten österreichischen Republik, auch wenn sich die Optanten im Besitz
eines Heimatscheins einer dortigen Gemeinde befanden, in den meisten Fällen nicht
anerkannt, was zur Folge hatte, dass sie und ihre Familien staatenlos wurden und
fortan in Österreich als »Fremde« lebten.
Auch Martha Raviv, die am 20. Januar 1936 in Wien als Tochter des Leon Juda
Leib Falkenflik und seiner Frau Gena, geb. Sternberg, geboren worden war, ist ein
solcher »Fall«. Beide Eltern stammten aus Galizien. Die 1902 in Sniatyn (heute Uk-
raine) geborene Gena Sternberg wuchs in einer wohlhabenden, sich der deutschen
Kultur tief verbunden fühlenden Familie auf. Sie hatte ausschließlich deutschspra-
chige Schulen besucht, zunächst die Volksschule in Stanislau/Stanisławów/Stanyslav,
später die »Alina«, eine Handelsschule in Wien. Der Vater, Leon Falkenflik, war
1897 im nahe der russischen Grenze gelegenen Tłuste geboren worden. Wie auch
der Großvater mütterlicherseits, Simon Sternberg, war er Teilnehmer des Ersten
Weltkrieges gewesen. 1917 wurde er verwundet und ausgezeichnet. Nach Abschluss
seines Chemiestudiums heiratete er 1926 Gena Sternberg. Bald darauf ließ sich das
Paar in Wien nieder. Als Chemiker und Kaufmann betrieb Leon Falkenflik eine
628 Vgl. Burger/Wendelin, Staatsbürgerschaft und Vertreibung, Diagramm 14, S. 435.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271