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178 Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik
Im Mai erhielt Gena Falkenflik die Asche ihres Mannes. Die Urne wurde im jüdi-
schen Teil des Zentralfriedhofs beigesetzt.
Im November 1939, kurz nach der Verhaftung und Deportation ihres Mannes,
schickte Gena Falkenflik, die verzweifelt, doch vergeblich um die Freilassung ihres
Mannes gekämpft hatte, ihre ältere, gerade zwölfjährige Tochter Cwetka nach Pa-
lästina, in der Hoffnung, dass eine dort lebende Verwandte sie bei sich aufnehmen
werde. Zu jung für die Jugend-Alijah reiste das Kind, versehen mit einer Schiffspas-
sage und einem Palästina-Zertifikat, allein mit dem Zug vom Wiener Südbahnhof
nach Triest. In Triest angekommen folgte sie dem Strom der Flüchtlinge und er-
reichte ein Schiff, das sie nach Haifa brachte. Eine Nacht lang blieb sie, da niemand
sie abholte, allein auf dem Schiff. Als sie am nächsten Morgen an Land ging, war
der Himmel über Palästina strahlend blau. Am Kai kauft sie eine Orange und traf
dabei einen ehemaligen Lehrer und eine Mitschülerin, die ihr weiterhalfen. Die erste
Zeit verbrachte sie in einer Unterkunft für Mädchen der zionistischen Organisation
Betha Halozot. Bald ging sie wieder in die Schule. Später machte sie eine Ausbildung
zur Krankenschwester (ein Beruf den Niza Falkenflik, wie sie sich später nannte, bis
zu ihrer Pensionierung ausüben würde). Das Leben in Palästina war hart, doch es
gefiel ihr. Sie wäre fast glücklich gewesen, wäre da nicht die drückende Ungewissheit
über das Schicksal ihrer zurückgebliebenen Familie gewesen. Jahrelang erfuhr sie
nichts. Erst im Juli 1944 erhielt sie ein Lebenszeichen der Mutter
– ein Päckchen aus
Frankreich. Es enthielt rote Schuhe und ein Seidentuch. Cwetka fühlte sich verlasse-
ner denn je, glaubte sie doch nun, dass Mutter und Schwester im sicheren Ausland
und im Luxus leben. Nichts konnte unrichtiger sein.
Tatsächlich blieb Gena Falkenflik mit ihrer jüngeren Tochter Martha noch Jahre
nach der Flucht Cwetkas in Wien. Anfänglich hatte sie wohl gehofft, dass ihr Mann
bald aus der Haft entlassen werden würde. Martha erinnert sich, dass die Mutter
den gelben Stern getragen hat und sie sich häufig bei den Behörden melden mussten.
Im Herbst 1941, als sich in Wien die Gerüchte um die bevorstehende Deportation
der Juden verdichteten, begann für Mutter und Tochter eine Zeit ständigen sich
Versteckens. Aus ihrer Wohnung vertrieben, wanderten sie von Platz zu Platz. Einige
wenige Menschen halfen der schönen Frau mit ihrer kleinen Tochter. Ein Polizei-
offizier im Meldeamt, der eine falsche Bescheinigung ausstellte, eine Schneiderin,
die Mutter und Tochter eine Nacht lang im Badezimmer verbarg, eine Nachbarin,
die von den Produkten aus der väterlichen Erzeugung noch manches abzustoßen
verstand, und jene, die sie über bevorstehende Deportationen informierten. Ihre
Mutter habe alles daran gesetzt, so Martha Raviv, »Schlupfwinkel im bürokratischen
Wirrwarr zu finden«. Einer dieser »Schlupfwinkel« war der Versuch, sich eine andere
Staatsbürgerschaft zuzulegen, hätte doch eine fremde Staatsbürgerschaft unter Um-
ständen lebensrettend sein können, da man Ausländern, auch ausländischen Juden,
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271