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Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
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Page - 180 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart

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180 Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik gepfercht in Viehwaggons oder auf langen Fußmärschen führte die »Reise« einer Gruppe von etwa zwanzig Personen, die als russische Staatsbürger galten, über Linz, Prag, Chemnitz, Leipzig zunächst nach Halle an der Saale. Ihre Reisebegleiter waren Hunger und Kälte, Schläge und Todesangst. Dazu die größte Angst des Kindes : die Drohung, man würde sie von ihrer Mutter trennen. Erlebten Mutter und Tochter im Polizeigefängnis von Prag bei allem Schrecken der Gefangenschaft noch man- che menschliche Geste  – eines Tages brachte eine Aufseherin einen Sack mit Obst, Brot und Süßigkeiten, den tschechische politische Gefangene für die Kinder in der Anstalt gesammelt hatten642  –, so erlebten sie im Gefängnis von Halle eine Hölle an menschlicher Gemeinheit und Grausamkeit. Doch weder Schläge noch andere Übergriffe konnten die Würde und den Lebensmut der Gena Falkenflik brechen. Bei einem stundenlangen Appell in Hildesheim, einer weiteren Station ihrer Reise durch die Polizeigefängnisse, verlangte sie einen Sessel  – nicht für sich, sondern für eine alte Frau, die umzufallen drohte – und erwarb sich dadurch die Achtung des Lager- kommandanten, der ihr bei der Weiterreise Medikamente zusteckte  – ein begehrtes Tauschmittel, das sich als lebensrettend erweisen sollte, lebensrettend wie der schwe- dische Schutzbrief. Denn noch immer galten russischen Juden als politische Gefan- gene, die man eventuell würde austauschen können. Und darum ging die Reise nicht nach Osten  – was den sicheren Tod bedeutet hätte  –, sondern nach Westen. Letzte Polizeistationen waren Hannover und Celle. Von dort wurden die Gefan- genen eines Tages, im November 1943, mit einem Lastwagen weitertransportiert. Wohin, wussten sie nicht. Martha saß vorn beim Fahrer an einem abgedunkelten Fenster. Durch ein kleines Loch der geschwärzten Scheibe blickte sie hinaus und beschrieb ihren Mitgefangenen die schöne herbstliche Landschaft. Dann erblickte sie plötzlich Baracken und Wachtürme, Scheinwerfer, Zäune und Kabel, sah Hunde, die nach Menschen schnappten  – Menschen in Häftlingskleidung. Das Kind schwieg darüber, als fürchtete es die Panik der anderen. Sie waren angekommen : in Bergen Belsen. Als sie schließlich unter Schlägen und Schreien zum Appellplatz getrieben wurden, las sie in den Augen der Umstehenden so etwas wie Abschied und Bedauern. Es gab große und kleine Baracken, Baracken für Eltern mit Kindern, Kinder ohne Eltern etc.  – die perverse Ordnung der Lager. Martha und ihre Mutter kamen in eine Baracke für polnische Juden. Martha wurde ein Mittelbett in einer dreistöckigen Lagerstatt zugewiesen, ihre Mutter erhielt das Bett darüber. Die Mut- ter konnte sich auf Polnisch verständigen, das Kind lernte rasch ein paar Brocken. Zum Chanukka-Fest im Dezember sang man polnische Lieder und erzählte den Kindern jüdische Sagen. Jeder Tag begann mit einem stundenlangen Appell, oft bei 642 »Crime and human rights in Pakrac Prison September/October 1943 as seen by a child«, Statement by Martha Raviv in Prag, August 2012.
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Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Subtitle
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Author
Hannelore Burger
Location
Wien
Date
2014
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-79495-0
Size
15.5 x 23.5 cm
Pages
292
Keywords
Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
Categories
Geschichte Historische Aufzeichnungen

Table of contents

  1. Einführung 9
  2. Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
  3. Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
  4. Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
  5. Die josephinische Zäsur 26
  6. Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
  7. Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
  8. Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
  9. Die Vertretung der Tolerierten 39
  10. Das Judenamt 40
  11. Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
  12. Taufen und Nobilitierungen 47
  13. Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
  14. Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
  15. und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
  16. Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
  17. Juden als österreichische Reichsbürger 62
  18. Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
  19. Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
  20. Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
  21. Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
  22. Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
  23. Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
  24. Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
  25. Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
  26. Paradoxe Fremde 85
  27. Die dualistische Verschärfung 86
  28. Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
  29. Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
  30. Heimatrecht und soziale Frage 91
  31. Der Fall Dr. Hugo Stark 92
  32. Der Fall Julia Singer 93
  33. Der Fall Lea Weitzmann 95
  34. »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
  35. Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
  36. Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
  37. Kafkas Sprachen 100
  38. Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
  39. Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
  40. Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
  41. Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
  42. Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
  43. Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
  44. Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
  45. Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
  46. Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
  47. Juden im Ersten Weltkrieg 130
  48. Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
  49. Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
  50. Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
  51. Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
  52. Signaturen der Vertreibung 152
  53. Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
  54. Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
  55. Der Fall Raviv 172
  56. Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
  57. Der Fall Elias Canetti 188
  58. Der Fall Manès Sperber 200
  59. Semantische Nachbemerkungen 213
  60. Verzeichnis der Archive 222
  61. Literaturverzeichnis 223
  62. Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
  63. Zeittafel 245
  64. Register 264
  65. Personen 264
  66. Orte 269
  67. Sachen 271
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