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Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 181
klirrender Kälte. Martha erinnert sich an den Hunger. Es gab Kartoffelschalen und
ein Stück Brot. Kinder weinten stets nach Brot. Überlebt hat sie, davon ist sie noch
heute überzeugt, nur durch das Opfer ihrer Mutter, die selbst unendlich hungerte,
um ihr Kind am Leben zu erhalten. Als besonders traumatisches Erlebnis sind Mar-
tha Raviv die Desinfektionen in Erinnerung : »Man zog uns durch übermenschlich
erhitzten Dampf oder dem Gefrierpunkt nahes Wasser. Ich wollte sterben, um die
grauenhafte Hysterie und das Lachen jenseits der Mauer nicht hören zu müssen.«
Fromme Juden beteten das Schma Israel (»Höre Israel ! Gott unser Herr ist ein einiger,
einziger Gott !«).
Ende Februar 1944 wurde die Gruppe der »russischen Juden« wiederum in einen
Zug verfrachtet. Niemand wusste, wohin die Reise ging. Unterwegs wurde der Zug
bombardiert, sprang aus den Gleisen, stand irgendwo die ganze Nacht. Martha kau-
erte eingehüllt in ein großes, mit Rosen bedrucktes russisches Tuch am Boden. Im
Morgengrauen tauchte eine Rheinbrücke auf : Kehl. Die Räder rollten weiter, gen
Westen, Richtung Straßburg, durch die Vogesen nach Vittel. Diesmal handelte es
sich um ein Lager für arretierte Staatsbürger feindlicher Länder, überwiegend Briten
und Amerikaner, die für den Gefangenenaustausch bestimmt waren.643 War Vittel
vor dem Krieg vor allem berühmt für sein heilendes Wasser, so wurden seit 1940
in den prachtvollen alten Kurhotels des Städtchens Kriegsgefangene untergebracht,
umzäunt von Stacheldraht, bewacht von der SS. Bei den internierten Juden handelte
es sich um polnische, belgische und holländische Juden mit lateinamerikanischen
Pässen. Gefangenenaustausch fand nur selten statt. Einmal, im März 1944, erhiel-
ten sechzig Insassen von Vittel Palästina-Zertifikate. Ausgetauscht wurden sie gegen
palästinadeutsche Templer, die seit Jahrhunderten in geschlossenen Siedlungen im
Mandatsgebiet lebten. Die Gruppe kam am 10. Juli 1944 in Haifa an. Einer von
ihnen führte ein kleines Päckchen mit sich, das an Cwetka Falkenflik adressiert war.
Es enthielt die roten Schuhe und das Seidentuch, verblichene »Luxusgüter«, die ihre
Mutter im Lager gegen jene Medikamente getauscht hatte, die sie einst vom Kom-
mandanten von Hildesheim erhalten hatte.
Danach gingen die Züge nur noch in die Vernichtungslager. Am 29. April 1944
ging wieder ein Zug mit etwa 200 Gefangenen von Vittel ab. Über Drancy führte er
direkt nach Auschwitz-Birkenau. Unter den Deportierten befanden sich zahlreiche
polnische Rabbiner und Intellektuelle, die vom Warschauer Judenrat zunächst da-
durch gerettet worden waren, dass man ihnen lateinamerikanische Pässe vermittelt
hatte, darunter der Dichter Jizchak Katzenelson, der in den Besitz eines Passes von
Honduras gekommen war. Katzenelson hatte die ganze Zeit im Lager an seinem
später berühmt gewordenen Gedicht in jiddischer Sprache »Dos lied vunem ojsge-
643 Encyclopädie des Holocaust, Teil II, Israel Gutmann (Hg.), (Yad Vashem/Jerusalem 1990), S. 404.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271