Page - 195 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Image of the Page - 195 -
Text of the Page - 195 -
Staatenlosigkeit als Massenschicksal 195
Ständestaat in Erwägung gezogen haben sollte, ist unwahrscheinlich. Das gewalt-
same Vorgehen des austrofaschistischen Regimes gegen die Arbeiterschaft, die Aus-
löschung der Sozialdemokratie und das Verbot der kommunistischen Partei waren
ihm nicht gleichgültig. Dass sein früheres Idol Karl Kraus sich öffentlich für Dollfuß
erklärte, war ihm Anlass für einen Bruch.681 Unter den gegebenen politischen Um-
ständen scheint er es vorgezogen haben, staatenlos zu bleiben.
Nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im
März 1938 erwies sich Canettis Staatenlosigkeit zunächst als Vorteil. Mit den Nürn-
berger Gesetzen, die am 20. Mai 1938 in Österreich kundgemacht wurden, wurden
alle österreichischen Juden »deutsche Staatsangehörige«. Die Canettis fallen – als
Staatenlose – jedoch nicht unter die Nürnberger Gesetze. In ihrem Roman »Die
Schildkröten« schildert Veza, die vom Antisemitismus viel stärker betroffen scheint
als Canetti, eine Szene, in der die Protagonistin Eva ihren Mann (unschwer als C.
zu erkennen) überredet, das Land zu verlassen : »Es schlagen jeden Tag neue Ge-
setze auf uns nieder, gegen Menschen mit schwarzen Haaren.« Er versucht, sie zu
beruhigen, doch Eva antwortet : »So kannst du denken, … weil dich diese Blicke
nicht treffen. Weil deine Züge zufällig slawisch sind und deine Augen hell. Aber
ich
– man hasst mich plötzlich.«682 Auch von den unmittelbar nach dem Anschluss
beginnenden »Arisierungen« waren ausländische und staatenlose Juden zunächst
nicht betroffen. Im Herbst 1938 verloren die Canettis dennoch ihre Wohnung in
der Himmelstraße. Sie zogen in eine kleine Pension im 19. Bezirk und suchten
nach einer Möglichkeit der legalen Ausreise. Veza schildert die Zeit des verzwei-
felten Wartens auf die Visa : »Die Angst herrscht jetzt im Herzen Europas, dessen
Bewohner die ›Liebenswürdigen‹ genannt wurden. Deren Häuser Geschichte waren.
Deren Frauen Schubertlieder sangen. Die Angst trägt eine braune Uniform und die
Swastika«.683 Nach dem Novemberpogrom, der sogenannten »Reichskristallnacht«,
gelang die Flucht.684 Im Gegensatz zu den einheimischen Juden, für die es viele
bürokratische Hürden zu nehmen galt und hohe Vermögensabgaben (Reichsflucht-
steuer) fällig waren, hatten sie als Staatenlose neben den gültigen Reisepapieren
nur eine »steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung« vorzuweisen.685 (Nur ein
Jahr später, im September 1939, würden es gerade die staatenlosen und polnischen
Juden sein, die die ersten Opfer systematischer Verfolgung und Vernichtung wur-
den.686)
681 Elias Canetti : Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937 (München 1985), S. 267
682 Veza Canetti : Die Schildkröten (München 1999) S. 13
683 Veza Canetti, Schildkröten, S. 28
684 Die polizeiliche Abmeldung erfolgte am 19. November 1938.
685 Vgl. Hanuschek, Canetti, S. 291
686 Weiss, Deutsche und polnische Juden, S. 194ff und 212 sowie Spring, Vermessen, S. 91–110.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271