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198 Staatenlosigkeit als Massenschicksal
Tod seiner zweiten Frau, löste er seine Wohnung in London auf. Doch er blieb
britischer Staatsbürger. Die Schweizer Staatsbürgerschaft erhielt er nie. Nur das
Prozedere der jährlichen Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung wurde für ihn –
nach einer Intervention eines Freundes beim Züricher Stadtpräsidenten – als im
öffentlichen Interesse gelegen abgekürzt.694 Die Einbürgerung in der Schweiz zählt
bekanntermaßen zu den schwierigsten. Neben der Bedingung eines zwölfjährigen
Aufenthalts existiert die Besonderheit des Gemeindebürgerrechts, das über den Vater
weitergegeben wird, ohne dass eine persönliche Beziehung zum »Bürgerort« beste-
hen muss. Ein Fremder muss sich zuerst – darin gleicht es dem altösterreichischen
Heimatrecht
– um das Bürgerrecht einer Gemeinde bewerben.695 Jeder Schweizer ist
zuallererst Bürger einer bestimmten Gemeinde, »Bürgerin von« oder »Originaire de«,
wie es im Pass heißt. Damit ist der Bürgerort, wie Regina Wecker bemerkt, Teil der
persönlichen Identität.696 Eine weitere Bedingung war bis in die 1980er-Jahre die
Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft. Doppelte Staatsbürgerschaften wurden –
ebenso wie in Österreich – nicht geduldet. So blieb es für Elias Canetti am Ende in
der Schweiz bloß bei einem Ehrengrab (auf dem Friedhof Witikon in Zürich)697
und in Österreich bei der Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien.698
Dass das nationalstaatliche Modell der Staatsbürgerschaft, wie es sich in Europa
nach dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hat, für Menschen, die, wie Elias Ca-
netti, vielen Welten angehörten, sich als viel zu eng erwies, ist evident. In seinem
Nachlass finden sich dann auch Überlegungen zu einer Weltbürgerschaft : »Man
wird, was man war, erst ganz in der Emigration, man sollte in mehreren sukzessi-
ven Emigrationen leben, überall als Fremder angehen, nicht sehr erwünscht, zum
Lernen in jedem Lebensalter gezwungen, so könnte man allmählich wirklich zum
Weltbürger werden«. Canetti entwickelte ein Konzept verbundener Nationalitäten :
Heimaten (im Plural) seien jene Länder, in denen man zumindest fünf Jahre gelebt
habe. Man sei verpflichtet, die Sprache eines solchen Landes zu beherrschen, den
Wohnsitz manchmal zu wechseln, dürfe aber, vom fünfzigsten Jahr an, sich ganz dort
niederlassen, wo es einem am besten gefällt. Die Kinder müssten unter drei sichtlich
verschiedenen Völkern aufwachsen. Einsprachige gelten als Idioten, »wie heutzutage
694 Vgl. Hanuschek, Canetti, S. 660.
695 http ://switzerland.isyours.com.
696 Regina Wecker : »Ehe ist Schicksal, Vaterland ist auch Schicksal und dagegen ist kein Kraut gewach-
sen.« Gemeindebürgerrecht und Staatsangehörigkeitsrecht von Frauen in der Schweiz 1798–1988,
in : L’homme 1 (1999), S. 13–37, hier : S. 16.
697 Vgl. Hanuschek, Canetti, S. 660.
698 Die Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien erhielt Elias Canetti am 26. April 1985, vgl. Hanns Jäger-
Sustenau : Die Ehrenbürger und Bürger ehrenhalber der Stadt Wien (Wien 1992), Nr. 143, S. 78.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271