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202 Staatenlosigkeit als Massenschicksal
sich jedoch nicht nur kulturell und religiös, sondern auch hinsichtlich ihrer staats-
bürgerlichen Stellung. Während »Westjuden« in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts im Großen und Ganzen die staatsbürgerliche Gleichheit erreicht hatten,
blieben die »Ostjuden« noch lange in ihrer traditionellen Autonomie verhaftet. So
erhielten etwa polnische Juden die vollen staatsbürgerlichen Rechte erst nach dem
Ersten Weltkrieg durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages, nicht nur als
Individualrechte, sondern auch als Angehörige einer nationalen Minderheit.710 Sie
bewegten sich damit in einem rechtlichen Rahmen, der ihren partikularen Interes-
sen und ihrem Wunsch nach Autonomie Ausdruck verlieh.711
Sichtbarster Ausdruck ostjüdischer Autonomie und Authentizität aber war das
Schtetl (Verkleinerungsform von jiddisch schtot, Stadt). Obwohl keineswegs alle
Juden Osteuropas Schtetlbewohner waren, wurde das oft verklärte und idealisierte
Bild des Schtetls nach dem Zweiten Weltkrieg zum Inbegriff des Verlustes ostjüdi-
scher Lebensform. So lange es allerdings existierte, war es, wie Eva Hoffmann gezeigt
hat, »weder Utopie noch Dystopie, sondern ein kohärentes und überraschend wi-
derstandsfähiges soziales Gebilde«712 – so auch Zabłotow, die Stadt am Pruth, im
südöstlichen Galizien an der äußersten Peripherie des Habsburgerreiches gelegen,
das trotz aller Insignien altösterreichischer Staatlichkeit (einem Bezirksgericht, einer
Finanzwache, einem Telegrafenamt, einer Eisenbahnstation, einer Baron-Hirsch-
Schule, einer Tabakfabrik) seinen der chassidischen Tradition verhafteten Charakter
bewahrt hatte.
Manès Sperber hat der Welt, in die er hineingeboren worden war,713 im ersten
Teil seiner Autobiographie, »Die Wasserträger Gottes«, ein Denkmal gesetzt : dem
Ritual, das den Verlauf eines jeden Tages bestimmte, dem permanenten Gebet als
Lebensform, dem Sinn für Gerechtigkeit, dem Streben nach Bildung, dem Witz
tities, S. 71. Zur Geschichte des Ostjudentums siehe : Heiko Haumann : Geschichte der Ostjuden
(München 1999).
710 Dan Diner traf in einem Radiointerview die Unterscheidung : »Individualität und Staatsangehörig-
keit« im Westen, »Ethnifizierung und Kollektivität« im Osten. Juden : Vormodern, modern, post-
modern. Science.ORF.at, 19.11.2010. Siehe dazu auch Dan Diner : Synchrone Welten : Zeiträume
jüdischer Geschichte (Göttingen 2005), S. 25.
711 Weiss, Deutsche und polnische Juden, S. 12.
712 Eva Hoffmann : Das Schtetl. Die Welt der polnischen Juden (München 2003), S. 24. Siehe dazu
auch die berührenden Schilderungen ostjüdischer Lebenswelten in : Rabbi Berl Edelstein : Schab-
batnachmittage im Obstgarten. Zerbrochene Welten meiner chassidischen Kindheit (Wien/Köln/
Weimar 1999).
713 Das Geburtsbuch des Israelitischen Matriken-Amtes in Zabłotow verzeichnet, dass dem Kaufmann
David Mechel Sperber und seiner Ehegattin Jente Sperber, geborne Heger, aus Kolomea, am 12.
Dezember 1905 in Zabłotow ein Sohn geboren worden war, der »am 19. Dezember 1905 beschnit-
ten und ihm dabei der Vorname Manes Nussen beigelegt wurde«. Reproduktion des Geburtszeug-
nis, Nr. 1401744 v. 7.9.1936, Nachlass Sperber, ÖLA/ÖNB.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271