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204 Staatenlosigkeit als Massenschicksal
mit diesem alten Mann zusammen, immer mehr mit ihm als mit dem Zufall von
Geburtsort und Abstammung«.716
Tatsächlich verloren mit dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Mo-
narchie im November 1918 Millionen Menschen – darunter auch die Familie Sper-
ber – ihre Staatsbürgerschaft. Hatten sie als Flüchtlinge in Wien zwar ohne Heimat-
recht, doch als gleichberechtigte Staatsbürger gelebt, so wurde ihr Aufenthalt jetzt ein
prekärer. Die »Republik Deutschösterreich« hatte sich am 22. November 1918 zum
Souverän über »das geschlossene Siedlungsgebiet der Deutschen innerhalb der bisher
im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder« erklärt. Darüber hinaus wurden
Ansprüche auf alle »Deutschen« in den Nachfolgestaaten Cisleithaniens und West-
ungarns erhoben.717 Gleichzeitig schien es in den Debatten um das künftige Staatsbür-
gerschaftsgesetz nur ein Problem zu geben : die Einbürgerung der jüdischen, vor allem
aus Galizien und der Bukowina stammenden Kriegsflüchtlinge zu verhindern. Bereits
während des Krieges hatte sich eine beispiellose Kampagne gegen die »Ostjuden« –
jene seit Kriegsbeginn vor der russischen Armee geflüchteten, teilweise von der öster-
reichischen Armee evakuierten jüdischen Flüchtlinge – entfaltet. Pogrome in Polen
und der Ukraine brachten neue Flüchtlinge. Im Vertrauen nicht zuletzt in ihre öster-
reichische Staatsbürgerschaft kamen sie nach Wien, oft mit nicht viel mehr als ihrem
Heimatschein. Diese Flüchtlinge spielten – wie bereits erwähnt – eine beträchtliche
Rolle bei der Konstruktion der österreichischen Staatsbürgerschaft in den Jahren 1918
bis 1920. Die dem Staatsbürgerschaftsgesetz von 1918 zugrundeliegenden Vorstellun-
gen bildeten schließlich auch die Grundlage für die im Rahmen der Pariser Friedens-
verhandlungen vorgenommene Abwicklung der altösterreichischen Staatsbürgerschaft.
Wie oben beschrieben sah der Artikel 80 des Vertrages von St-Germain-en-Laye vom
10. September 1919 für die Bewohner aller Nachfolgestaaten der österreichisch-unga-
rischen Monarchie ein Optionsrecht nach »Rasse und Sprache« vor.718
Doch noch knapp vor dem Inkrafttreten des Staatsvertrags hatte der sozial demo-
kratische Landeshauptmann von Niederösterreich, Albert Sever, mit Erlass vom
716 Manès Sperber : Die Zeit in der sie lebten. Österreichische Juden unter Franz Joseph (Frankfurt a.
M. 1970), S. 14.
717 § 1, StGBl 1918/40 und Staatserklärung vom 22. November 1918 über Umfang, Grenzen und
Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschösterreich, StGBl 1918/41.
718 »Personen, die in einem zur ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie gehörigen Gebiet
heimatberechtigt und dort nach Rasse und Sprache von der Mehrheit der Bevölkerung verschieden
sind, können innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten nach dem Inkrafttreten des gegen-
wärtigen Vertrages für Österreich, Italien, Polen, Rumänien, den serbisch-kroatisch-slowenischen
Staat oder die Tschechoslowakei optieren, je nachdem die Mehrheit der Bevölkerung dort aus
Personen besteht, welche die gleiche Sprache sprechen und derselben Rasse zugehörig sind wie sie.«
Zit. nach Goldemund/Ringhofer/Theurer, Staatsbürgerschaftsrecht, S. 422ff (Hervorhebung nicht
im Original). Genauer dazu : Kolonovits : Rechtsfragen des Wiedererwerbs, S. 57ff.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271