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Das Zentrum formiert sich 51
Karl Kupelwieser hatte seine Spende mit der Aufforderung verbunden, die physika-
lische Erforschung der Radioaktivität in den Mittelpunkt der Institutsarbeit zu stel-
len.100 Tatsächlich nahmen radiochemische beziehungsweise chemisch-präparative
Arbeiten in Wien einen ebenso großen Raum ein wie im Laboratoire Curie in Paris,
das im Grenzbereich zwischen chemischer und physikalischer Radioaktivitätsfor-
schung verortet war. Zumindest in der Anfangszeit fanden in Wien auch botanische
Forschungen zur Radioaktivität statt, während medizinische und sonstige biologische
Fragen – dem Wunsch des Stifters Kupelwieser entsprechend – nicht behandelt wur-
den.101
In Frankreich finanzierte der bereits erwähnte französische Industrielle Armet de
Lisle 1906 die Gründung des ebenfalls in Paris angesiedelten Laboratoire Biologique
du Radium, das die biologische und medizinische Wirkung des Radiums erforschte.102
In Heidelberg entstand 1909 ein Institut für Strahlenforschung und -therapie, das
ausschließlich mit der Erforschung des medizinischen Nutzens der Radioaktivität be-
fasst war.103 Das gleiche Ziel hatte die 1908 im schwedischen Lund errichtete Radio-
logiska Institutionen und das zwei Jahre später in Stockholm eröffnete Radiumhem-
met.104 Fast zeitgleich zu dem Wiener Bauprojekt gab es in Paris weitergehende Pla-
nungen, ebenfalls ein auf Radioaktivitätsforschung spezialisiertes Institut zu errichten.
Patriotische Argumente spielten dabei eine ebenso große Rolle wie in Wien. Das Ins-
titut du Radium wurde 1914 fertiggestellt, nahm den Betrieb wegen des Krieges de
facto aber erst 1918 auf.105 Es folgte architektonisch dem Wiener Vorbild, war aber
wissenschaftlich breiter ausgerichtet als das Institut für Radiumforschung : Von Beginn
an waren zwei Abteilungen vorgesehen. Der von Marie Curie geleitete Pavillon Curie
übernahm die physikalisch-chemische Untersuchung radioaktiver Stoffe. Die zweite
Abteilung des Instituts, der Pavillon Pasteur, wurde von dem Arzt und Professor am
Institut Pasteur, Claude Regaud, geleitet und war auf die biologische und medizinische
Anwendung der Radioaktivität ausgerichtet.106
100 Kupelwieser hatte 1906 bereits die Biologische Station in Lunz gegründet, die erste hydrobiologische
Forschungsstelle im ostalpinen Raum. Vgl. Kropf 1982, 314. Ob er Lunz Konkurrenz ersparen wollte,
indem er in den Statuten des Instituts für Radiumforschung die physikalische Radioaktivitätsforschung
festschreiben ließ, geht aus den Quellen nicht hervor.
101 Bevor die Biologische Versuchsanstalt (Vivarium) 1914 im Wiener Prater der Akademie übergeben
wurde, untersuchten Botaniker am Institut für Radiumforschung den Einfluss von Radioaktivität auf
das Pflanzenwachstum. Vgl. CUL, RC, Add 7653, M 111 : Meyer an Rutherford vom 19.6.1911.
102 Vgl. Vincent 1997.
103 Vgl. Cahan 2011, 263.
104 Vgl. Edling 1961, 9, 47.
105 Vgl. Boudia 2011, 12.
106 Vgl. Failla 1941.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369