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Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung,
1899–191862
chen Personals früh etablierte, gab es vor dem Ersten Weltkrieg in Wien noch nicht.161
Selbst bei den vereinzelten besoldeten Assistenten des Instituts ließ sich das k. k. Minis-
terium für Unterricht und Kultus viel Zeit, die Gehälter auszuzahlen.162
Anders als in Paris, wo Marie Curie ihren Radiumreichtum nutzte, um den wissen-
schaftlichen Nachwuchs gezielt auf von ihr vorgegebene Forschungsthemen anzuset-
zen, war man in Wien vor allem an Gästen interessiert, die sich in ihren Herkunftslän-
dern bereits beruflich etabliert hatten oder auf dem besten Wege dahin waren.163 Die
Akademie versprach sich von den Institutsgästen einen ideellen Mehrwert. Deren
wissenschaftlicher Erfolg sollte, so die Hoffnung, auf das Institut für Radiumforschung
abfärben. Dementsprechend gab die Institutsleitung zwar nicht vor, wo die Gäste in
der Forschung ihren Schwerpunkt setzten, bat aber darum, die Ergebnisse in den Sit-
zungsberichten der Akademie zu veröffentlichen. Dem hauseigenen Publikationsorgan
erwuchs dadurch zusätzliches Renommee und sein Tauschwert gegenüber ausländi-
schen Publikationen stieg.164
Die guten materiellen Bedingungen in Wien boten Forschern und Forscherinnen
aus den kleineren Universitäten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie eine will-
kommene Möglichkeit, um den schlecht(er)en Bedingungen im eigenen Labor zu
entkommen. Das Institut für Radiumforschung lockte aber auch Wissenschaftler aus
Übersee an, die zu jener Zeit mangels eigener Strahlungsquellen noch am Rande der
internationalen Radioaktivistengemeinschaft standen.165
Zwischen 1913 und 1922 arbeiteten 19 ausländische Wissenschaftler und Wissen-
schaftlerinnen am Institut für Radiumforschung, etwas mehr als zur gleichen Zeit etwa
in Berlin bei Hahn/Meitner forschten.166 Die meisten kamen aus dem deutschsprachi-
gen Ausland, doch Meyer empfing auch einige Gäste aus Skandinavien und den Kron-
ländern der Habsburgermonarchie. So stammten sieben Personen aus dem Deutschen
Reich, vier aus Polen, eine aus Ungarn, eine aus Bulgarien, drei aus Schweden und eine
161 Curies Labor verfügte seit 1906 über Mittel des US-amerikanischen Philanthropen Andrew Carnegie,
aus denen Stipendien bezahlt wurden. Französische Studierende hatten zudem die Option auf Stipen-
dien des französischen Unterrichtsministeriums. Vgl. Davis 1995, 333. Mindestens ein Drittel der dort
Beschäftigten arbeitete als »travailleurs libres« ohne Bezahlung. Vgl. Boudia 2001, 114.
162 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 204 : Hess an Meyer vom 16.6.1922.
163 Vgl. Schürmann 2006, 39, die allerdings fast ausschließlich die Situation der Frauen am Laboratoire
Curie untersucht. Zwischen 1906 und 1914 arbeitete dort eine stetig wachsende Zahl, insgesamt 58
Personen. Vgl. Davis 1995, 333.
164 Die »Mitteilungen des Instituts für Radiumforschung« hatten als Publikationsort für den wissenschaft-
lichen Nachwuchs einen ähnlich hohen Stellenwert wie die Hauszeitschrift des Laboratoire Curie, »Le
Radium«. Vgl. Davis 1995, 336.
165 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 219 : Hönigschmid an Meyer vom 15.11.1912 ; ebd.,
K 12, Fiche 185 : Fajans an Meyer vom 26.10.1913.
166 Vgl. zu den Besucherzahlen in Berlin Kant 2005, 305–306.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369