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Die Gefährdung des Zentrums 85
»Nachdem ich kürzlich über Herrn Ramsay berichtet habe und […] noch bemerke, dass ich
für Ramsays (wird hier synonym mit Lump oder Schweinehund gebraucht) weder in Süd
noch Nord noch West noch Ost das geringste übrig habe, möchte ich anderseits zu meiner
Freude feststellen, dass ich mit meiner Annahme, Rutherford und seinesgleichen würden als
erste wieder Fühlung mit uns suchen, Recht behalten habe. Ich lege Dir zwei Briefe in Copie
bei, die ich bitte, wenn es Deinen Prinzipien des Hasses nicht widerspricht, auch [Friedrich
von] Lerch oder anderen Interessenten zu zeigen […]. Ich […] hoffe Dein Grimm geht nicht
so weit, dass Du mir fluchst, weil ich beiden freundlich geantwortet habe.«264
Meyer suchte vor allem den Kontakt zu Rutherford aufrecht zu erhalten, dem er weiter
Sonderdrucke sandte. Sie erreichten den Adressaten wegen der Kriegsumstände aller-
dings oft mit monatelanger Verspätung.265
Die Wiener Gastforscher sorgten ebenfalls dafür, dass der Kontakt ins feindliche
Ausland nicht abriss. Dem britischen Physiker Robert Lawson, der von 1913 bis 1919
in Wien tätig war, war es ähnlich wie seinem Kollegen James Chadwick in Berlin nicht
mehr gelungen, die Stadt nach Kriegsbeginn zu verlassen.266 Er wurde als feindlicher
Ausländer interniert, konnte seine Forschungsarbeit am Institut für Radiumforschung
aber unbehelligt fortsetzen.267 Gemeinsam mit dem Institutsassistenten Victor Hess
modifizierte er den Geiger-Rutherford’schen Kugelzähler so weit, dass er für β- und
γ-Strahlen verwendet werden konnte.268 Lawson nutzte das internationale Netzwerk,
welches die Radioaktivistengemeinschaft vor dem Krieg geknüpft hatte, um die Ver-
bindung in die alte Heimat zu wahren. Briefe an seine Familie wurden auf Vermittlung
264 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 304 : Meyer an Schweidler vom 19.3.1915. Der briti-
sche Physiker und Chemiker William Ramsay hatte sich bald nach Kriegsbeginn hervorgetan, indem
er öffentlich die Indienststellung von Wissenschaftlern für die deutsche Kriegsmaschinerie anprangerte,
zugleich aber forderte, ebensolche Institutionen wissenschaftlich-militärischer Zusammenarbeit in
Großbritannien nach deutschem Vorbild zu schaffen. Die öffentlichen Verlautbarungen Ramsays und
seine antideutsche Haltung sorgten in der deutschsprachigen Wissenschaftsgemeinschaft für erhebliche
Aufregung. Die DCG erwog, ihr Ehrenmitglied Ramsay auszuschließen, vertagte die Entscheidung dar-
über aber bis nach Kriegsende. Vgl. Stoltzenberg 2006, 207–210; Kauffmann/Priebe 1990, 96–98.
265 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 176 : Meyer an Harald Bohr [für Rutherford] vom
12.3.1915, ebd., K 18, Fiche 293 : Meyer an Rutherford vom 9.3.1915 ; ebd., K 18, Fiche 293/294 :
Rutherford an Meyer vom 13.1.1920.
266 Vgl. CAC, MTNR 5/12/3, Bl. 7–8 : Meyer an Meitner vom 16.10.1914.
267 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 219 : Hönigschmid an Meyer vom 5.8.1914. Law-
son führte gemeinsam mit Hess eine Präzisionsbestimmung der Zahl an α-Teilchen durch, die von ei-
nem Gramm Radium pro Sekunde ausgesandt werden.
268 Vgl. Hess/Lawson 1916. Meitner wurde durch die Versuche von Hess und Lawson, die sie bei ihrem
Aufenthalt am Institut für Radiumforschung kennengelernt hatte, zu weiteren Arbeiten in diesem Be-
reich angeregt. Vgl. Meitner an Hahn vom 25.10.1916, zitiert bei Ernst 1992, 60.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369