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Das Zentrum (re-)formiert sich 113
dem Reich« zu entschärfen, indem er Wilhelm Wien, den Wortführer der süddeut-
schen DPG-Mitglieder, zum neuen Vorsitzenden ernannte. Der Physiker Wien war
1919 Wilhelm Conrad Röntgen als Professor an der Universität München nachgefolgt
und stand im Ruf, unbedingt eine Schlüsselposition in den wichtigsten Standesorgani-
sationen der Physik erlangen zu wollen. Indem man Wien in den Vorstand einband,
sollte zugleich verhindert werden, dass der noch radikaler auftretende Johannes Stark
eine prominente Position innerhalb der DPG übernehmen konnte. Wien setzte als
Vorstand die »möglichst weitgehende Dezentralisierung« der DPG durch.93 Die unter
seiner Führung 1921 verabschiedete neue Verfassung stufte die Berliner Gesellschaft
formal auf eine lokale Ortsgruppe zurück, die indes einige Privilegien genoss. Auch die
Tatsache, dass mit der neu gegründeten »Zeitschrift für Physik« und den »Physikali-
schen Berichten« mehr Publikationsmöglichkeiten geschaffen wurden, versöhnte viele
Kritiker mit der auf Berlin zentrierten Führungsspitze.
Meyer wurde auf der Naturforscherversammlung als Beisitzer in den DPG-Vorstand
gewählt, was allerdings ebensowenig an der faktischen Berliner Dominanz änderte wie
die Ernennung Wilhelm Wiens zum DPG-Vorstandsvorsitzenden.94 Von Meyer er-
hoffte sich der scheidende DPG-Geschäftsführer Karl Scheel vor allem Kooperations-
bereitschaft. Denn in dem Konflikt, der sowohl regional als auch politisch geführt
wurde, galt es Verbündete für die Berliner Sache zu finden. In der Tat stand Meyer den
Aktivitäten der Anti-Berlin-Fraktion, die von den rechtskonservativen süddeutschen
Physikern Johannes Stark, Philipp Lenard und Wilhelm Wien angeführt wurde, ableh-
nend gegenüber, womit er durchaus eigennützige Erwägungen verfolgte.95 Lenard
hatte gegen den Willen des Berliner Führungszirkels der DPG vorgeschlagen, in den
»Physikalischen Berichten« bevorzugt die Arbeiten aus dem Deutschen Reich zu veröf-
fentlichen – eine Regelung, die Physikerinnen und Physiker aus Österreich benachtei-
ligt hätte.96 Schweidler hingegen, der sich schon als Unterzeichner des Aufrufs »An
die Kulturwelt« im konservativen Lager positioniert hatte, warb bei seinen Wiener
Kollegen für das Programm, mit dem Lenard die DPG umzugestalten hoffte. Er wurde
1921 als Beisitzer in den DPG-Vorstand gewählt und gehörte diesem bis 1932 an.97 Als
Vorstandsmitglied setzte er sich erfolgreich dafür ein, dass die alljährliche Tagung der
Gesellschaft 1924 in Innsbruck stattfand.98
93 Forman 2007, 51–52. Ernst Lecher wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden ernannt.
94 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 169 : Scheel an Meyer vom 30.10.1920.
95 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 169 : Meyer an Scheel vom 12.11.1920.
96 Vgl. DPG 1920, 86, 98.
97 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 306 : Schweidler an Meyer vom 22.6.1920.
98 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 306 : Schweidler an Meyer vom 13.5.1922.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369