Page - 116 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Image of the Page - 116 -
Text of the Page - 116 -
Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–1932116
munity zu rehabilitieren. Unmittelbar nach Kriegsende sammelte er bei seinen briti-
schen Kollegen Hilfsgüter für notleidende Wiener Kinder.110 Er warb zudem dafür,
englischsprachige Fachzeitschriften bereitzustellen, die den Wiener Instituten sowie
den Physikalischen Lehrkanzeln in Innsbruck und Graz zugute kommen sollten.111
Kollegen aus Schweden und Großbritannien abonnierten daraufhin, oft bis in die
1930er Jahre hinein, Periodika wie »Nature« oder die »Comptes Rendues« für ihre ös-
terreichischen peers.112 Während die meisten britischen Radioaktivisten prinzipiell
noch keine Sonderdrucke ins Deutsche Reich senden wollten, erhielt das Institut für
Radiumforschung im Austausch für seine »Mitteilungen« die Publikationen verschie-
dener ausländischer Akademien.113 Auch wenn deren Tauschwert angesichts der aku-
ten Krise der Naturwissenschaften in Österreich gering sein mochte, trug die Hauspu-
blikation des Instituts dazu bei, den Wiener Forschungsergebnissen im Ausland Gehör
zu verschaffen.114 Die vielen Hilfsangebote aus dem Ausland riefen trotzdem ambiva-
lente Gefühle hervor. Paradigmatisch formulierte diesen Zwiespalt Meyer, als er die
Möglichkeit hatte, Teile seiner Bibliothek an das neu gegründete Kopenhagener Insti-
tut von Niels Bohr zu verkaufen : Er wolle »einerseits dabei kein schlechtes Geschäft
machen, anderseits nicht den Eindruck erwecken, als wollte ich ein Almosen haben«.115
Ungeachtet der unterschiedlichen politischen Positionierung Einzelner gelang es
der Radioaktivistengemeinschaft in Österreich, im Ausland bald nach Kriegsende als
nationale Entität betrachtet und zugleich rehabilitiert zu werden. Der unklare poli-
tisch-kulturelle Status des Landes spielte dabei eine wichtige Rolle. Zum einen ver-
stärkte er die schon im Krieg beobachtbare Tendenz, sich an der deutschen Wissen-
schaftsgemeinschaft zu orientieren. Zum anderen gewannen die Österreicher auch in
den Augen der einstigen Kriegsgegner an Akzeptanz, da sie den nationalistisch-revan-
chistischen Parolen ihrer deutschen Kollegen zumindest nach außen hin nicht folgten.
Dies war aber eine notwendige Voraussetzung dafür, weiterhin dringend benötigte
110 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 245 : Lawson an Meyer vom 12.10.1919.
111 Da die Kosten für ausländische Abonnements den Etat der Institute überschritten, kam der Ankauf
ausländischer Bücher und Fachzeitschriften nicht in Betracht. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K
16, Fiche 256 : Meyer an Lindemann vom 4.5.1920.
112 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 272 : Oséen an Meyer vom 15.11.1920 ; Centrum
för vetenskapshistoria, Kungl. Vetenskapsakademien Stockholm, Arkiv Carl Wilhelm Oséen, ab sofort :
KVA, ACWO : Ortner an Oséen vom 30.12.1938. Alexander Lindemann stellte die Zusendung des
»Philosophical Magazine« erst anlässlich der britischen Finanzkrise im Herbst 1931 ein. Vgl. AÖAW,
FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 256 : Lindemann an Meyer vom 7.10.1931.
113 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 12, Fiche 185 : Fajans an Meyer vom 2.10.1920. Das Labora-
toire Curie erhielt regelmäßig die »Mitteilungen« aus Wien. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K
22, Fiche 352 : Razet an Meyer vom 6.11.1934.
114 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 285 : Piccard an Meyer vom 6.11.1920.
115 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 213 : Meyer an Hevesy vom 12.7.1920.
back to the
book Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)"
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369