Page - 119 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Das Zentrum (re-)formiert sich 119
nach Wien vollkommen bewusst. Die Experimente zur künstlich induzierten Atom-
kernumwandlung, mit denen er 1919 das Feld der Atomzertrümmerungsforschung
eröffnete, wären ohne die Wiener Präparate nicht möglich gewesen.124 Im Cavendish
Laboratory in Cambridge, dessen Leitung er im selben Jahr übernommen hatte, konn-
ten er und seine Arbeitsgruppe die Leihgaben aus der Vorkriegszeit zwei Jahre kosten-
frei nutzen und sich damit gegenüber anderen britischen Laboratorien einen Vor-
sprung verschaffen.125 Größere staatliche Institutionen wie das National Physical La-
boratory in Teddington und das Londoner Radium Institute unter Leitung W. Lester
Astons unterhielten lediglich Emanationsanlagen, aus denen Radon in Gefäße und
Kapillaren abgefüllt wurde.126 Rutherfords Kollege Soddy, der aus dem schottischen
Aberdeen 1919 an die Universität Oxford gewechselt war, besaß kein eigenes Radium-
Präparat für die wissenschaftliche Forschung.127 Er vermittelte jedoch zwischen ver-
schiedenen Institutionen, die nach Kriegsende im Rahmen der British Empire Cancer
Campaign Radium erwarben.128 Der Radiummangel führte dazu, dass Soddy seine
Ambitionen, in Oxford ein neues Zentrum für die Radioaktivitätsforschung aufzu-
bauen, aufgeben musste. Dies machte den Weg frei für das Cavendish Laboratory, das
die Radioaktivitäts- in den folgenden Jahren zur Atomzertrümmerungsforschung wei-
terentwickelte.129
Der Deal mit Rutherford ist das einzige belegte Beispiel aus der Zwischenkriegszeit,
in dem die Akademie eine radioaktive Muttersubstanz, nämlich Radium, unter Umge-
holländischen Gulden
– circa 5.000 US-Dollar
– der Akademie als Schenkung zu vermachen. Erst auf
Rutherfords Intervention bei der britischen Regierung erhielt die Akademie das Geld ausbezahlt. Vgl.
AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 294 : Akademie der Wissenschaften an Großbritannische
Gesandtschaft in Wien vom 16.12.1921.
124 Die von dem Wiener Radium-C-Präparat ausgesandten α-Strahlen erwiesen sich wegen ihrer hohen
Energie von 7,7 MeV (gegenüber 4,5 MeV bei reinem Radium) bei der Bombardierung des Stickstoffes
am wirksamsten beziehungsweise wäre die Energie des reinen Radiums für die Umwandlung des Stick-
stoffkerns zu gering gewesen.
125 Nach Angaben Chadwicks verfügte das Cavendish Laboratory zwischen 1922 und 1925 über 400 Mil-
ligramm Radium in Lösung, um daraus Radiumemanation und andere Strahlungsquellen herzustellen.
Vgl. Oliphant 1972, 40.
126 In Astons Institut befanden sich drei solcher Anlagen mit insgesamt 2,5 Gramm Radium in Lösung. As-
ton erklärte sich Anfang der 1930er Jahre bereit, die leeren Radiumkapillaren und -gefäße dem Institut
für Radiumforschung zu spenden. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 233 : Karlik an
Meyer vom 16.2.1931.
127 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 275 : Paneth an Meyer vom 1.3.1934. Siehe zur
Entwicklung der Physik im Oxford der Zwischenkriegszeit Bleaney 1994, 253–256, 258.
128 Zu diesem Zweck wurde ein Fonds gegründet, der sich jeweils zur Hälfte aus Spenden und öffentlichen
Geldern speiste. Geplant war der Erwerb von 30 Gramm Radium, bis 1931 wurden 15 Gramm geliefert.
Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 233 : Karlik an Meyer vom 12.12.1931.
129 Vgl. Hughes 1997, 327.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369