Page - 120 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–1932120
hung der Statuten an Dritte veräußerte. Zwei weitere Beispiele sind belegt, in denen
Actinium- beziehungsweise Thoriumpräparate aushäusig verliehen wurden, was den
Statuten ebenfalls widersprach. Zwar war bei diesen Transaktionen kein Geld im Spiel,
doch erwuchs dem Institut für Radiumforschung in beiden Fällen ein unmittelbarer
Nutzen aus dem Verleih.
Die radiophysikalische Abteilung am KWI für Chemie, der Lise Meitner vorstand,
war seit der Gründung im Kriegsjahr 1917 darauf angewiesen, von Wien mit Präpara-
ten für die Radioaktivitätsforschung versorgt zu werden. Nach Kriegsende fehlten dort
die für größere Untersuchungen notwendigen Geräte und Präparate und deren An-
schaffung war während der Inflationszeit unmöglich.130 Meitner musste ihre Messun-
gen der Halbwertszeiten von Uran X (Th234) vorübergehend einstellen.131 Auch bei
ihren Forschungen zur Actiniumreihe kam die Berliner Physikerin wegen zu schwacher
Präparate nicht voran. Meyer, der selbst zu Actinium arbeitete, war sehr interessiert,
dass Meitner ihre Arbeiten fortführte und unterstützte sie nach Kräften. 1920/21 be-
stimmte seine Mitarbeiterin Elisabeth Rona als Gast in Meitners Abteilung den Ioni-
umgehalt in verschiedenen Radiumrückständen. Dadurch sollte geklärt werden, wie es
zu den abweichenden Ergebnissen von Hahn/Meitner und Meyer für das Abzwei-
gungsverhältnis der Actinium- von der Uranreihe gekommen war. Ronas Untersu-
chungen bestätigten den Verdacht, dass Meyer für das Verhältnis einen höheren Wert
erhalten hatte, weil seine Protactiniumpräparate einen geringeren Ioniumgehalt auf-
wiesen.132 Frustriert von der mühevollen Arbeit mit ihren schwachen Präparaten bat
Meitner Meyer 1923 um eine Actinium-Leihgabe, mit der sie das β-Strahlenspektrum
der Actiniumprodukte aufnehmen konnte. Ihrer Bitte wurde umgehend entspro-
chen.133 Aus dem Präparat reicherte sie Actinium X an, mit dem die Zuordnung der
γ-Strahlen von Uran X auf die Glieder Uran X1 sowie Uran X2 gelang und das
β-Strahlenspektrum von Uran X1 gedeutet werden konnte.134
Marie Curie war neben Meitner die einzige, die in der Zwischenkriegszeit aus Wien
eine radioaktive Muttersubstanz als Leihgabe erhielt. 1925 schickte Meyer ihr ein rund
130 Im November 1919 bat Otto Hahn um eine zusätzliche Menge Atzgersdorfer Rückrückstände, da durch
den Verlust des Protactiniumpräparates und das Nichteintreffen von 200 Kilogramm Rückrückständen
infolge des Krieges das Material fehlte, um die radioaktiven Arbeiten fortzusetzen. Vgl. AÖAW, FE-
Akten, IR, NL Meyer, K 12, Fiche 197 : Hahn an Meyer vom 20.11.1919.
131 Im Frühling 1923 erhielt sie von den Firmen De Haën und Schering leihweise 40 Kilogramm Uranylni-
trat, aus dem sie stärkere Präparate gewann.
132 Vgl. Ernst 1992, 103. Siehe zu Ronas Aufenthalt in Berlin Kant 2005, 317–318.
133 Vgl. CAC, MTNR 5/12/3 : Meitner an Meyer vom 26.9.1923 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 12,
Fiche 197 : Hahn an Meyer vom 26.3.1924.
134 Vgl. Ernst 1992, 67, 163.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369