Page - 132 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–1932132
Universität Brüssel aufbewahrt werden, um mit einem hochempfindlichen Elektro-
skop, das Piccard konstruiert hatte, Eichungen vorzunehmen.185 Die Brüsseler Unter-
nehmensleitung gab diesen Plan jedoch spätestens im Sommer 1923 auf, denn sie sah
ein, dass Eichungen des unternehmenseigenen Messlabors nur dann Gültigkeit bean-
spruchen konnten, wenn sie durch einen international anerkannten Radiumstandard
gedeckt waren. Da die Internationale Radiumstandard-Kommission sekundäre Stan-
dards nur an Staaten und eben nicht an Unternehmen oder Forschungslaboratorien in
privater Trägerschaft weitergab, musste die Union Minière einen solchen Standard im
Auftrag der belgischen Regierung beantragen.186 Die Belgier wandten sich mit ihrem
Anliegen 1923 zunächst an Curie, obwohl Meyer sein Vorkriegsamt nie aufgegeben
hatte und weiter als Kommissionssekretär fungierte. Auch bot sich das Institut für
Radiumforschung angesichts der bestehenden Kooperation eigentlich an, um dort
Sekundärstandards für Belgien beziehungsweise die Union Minière herzustellen. Vor-
erst lag den Belgiern aber daran, die Kontakte nach Österreich möglichst diskret zu
behandeln.
Die belgische Anfrage an Curie hatte allerdings einen Haken. Die Union Minière
bestand darauf, ihr eigenes Radium zur Herstellung des offiziellen belgischen Sekun-
därstandards zu verwenden.187 Die stoffliche Beschaffenheit des Radiums, das aus
Katanga-Erzen gewonnen wurde, war den Kommissionsmitgliedern zumindest nach
außen hin aber unbekannt. Bei allen bis dato hergestellten sekundären Standards war
Radium verwendet worden, das aus böhmischen Uranerzen gewonnen worden war.
Die Beschaffenheit dieser Erze galt als sehr gut untersucht. Am Institut für Radiumfor-
schung war man dank der fast zwei Jahre andauernden Kooperation mit der Union
Minière über die Zusammensetzung des belgischen Materials natürlich ebenfalls infor-
miert. Meyer zögerte keine Sekunde, den amtierenden Präsidenten der Kommission
Rutherford davon in Kenntnis zu setzen. Die kongolesischen Erze seien, so versicherte
er, für die Herstellung von Standardpräparaten besonders geeignet, da sie frei von
Mesothor seien.188
185 Vgl. AR-AGR, UM, 259/1078 : Lechien an Leemans vom 30.1.1924. In Hinblick auf die Eichung terti-
ärer Standards orientierte sich die belgische Unternehmensleitung an den Methoden, die im Londoner
Radium Institute entwickelt worden waren. Vgl. AR-AGR, UM, 259/1078 : Lechien an Piccard vom
6.5.1924. Eichungen von Produkten der Union Minière wurden im Institut de Mesures des Substan-
ces Radioactives der Universität Brüssel sowie im unternehmensinternen Eichlabor durchgeführt. Vgl.
Adams 1993, 497.
186 Vgl. MC, ALC, Fiche 4240 : Société Générale Métallurgique de Hoboken an Curie vom 1.6.1923 ; ebd.,
Fiche 3847 : Curie an Rutherford vom 2.8.1923.
187 Vgl. AR-AGR, UM, 259/1075 : Lechien an Rutherford vom 24.7.1923.
188 Vgl. CUL, RC, Add 7653, M 211 : Meyer an Rutherford vom 31.8.1923.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369