Page - 133 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Das Zentrum (re-)formiert sich 133
Es war Curie, die schließlich vorschlug das kongolesische Material in Wien unter-
suchen zu lassen. Obwohl der belgische Standard prinzipiell auch in Paris hätte herge-
stellt und geprüft werden können, wollte sie dem Institut für Radiumforschung den
Vortritt lassen, »qui comme vous le dites a été si durement éprouvé par la guerre«.189 Es
war nicht nur Mitleid, das Curie dazu bewog, sich für das Wiener Institut einzusetzen.
Bis zu ihrem Tod 1934 beharrte sie darauf, dass Standardisierungsfragen ausschließlich
von qualifizierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu behandeln seien, um
objektive Ergebnisse zu garantieren.190 Ihre Kritik, die Meyer durchaus teilte, richtete
sich insbesondere gegen die unzuverlässigen Messmethoden Piccards.191 Obwohl das
Brüsseler Unternehmen darauf drang, sekundäre Standards künftig nur noch in Paris
eichen zu lassen, stellte Curie sich auf die Seite des Instituts für Radiumforschung, dem
sie kraft seiner langen metrologischen Erfahrung vertraute.192 Die Union Minière er-
zielte mit ihrem Vorstoß gleichwohl einen Teilerfolg. Es gelang ihr vorerst zwar nicht,
Piccard als Mittler zwischen dem Unternehmen und der Radiumstandard-Kommission
zu etablieren, doch der belgische Standard sowie alle anderen in den folgenden Jahren
hergestellten Sekundärstandards bestanden aus Radium, das die Union Minière bereit-
stellte. Wie schon vor dem Krieg wurden die Standards für die Tschechoslowakei, die
Sowjetunion, Australien und Kanada in Wien geeicht und zum Teil auch produziert.193
Standards herzustellen, galt in Radioaktivistenkreisen als wenig attraktive Tätigkeit,
führte der direkte Umgang mit dem radioaktiven Material doch unweigerlich zu Ver-
brennungen an den Händen.194 In Zeiten akuter wirtschaftlicher Bedrängnis stellten
die Gebühren für die Herstellung von Standardpräparaten aber eine willkommene
Einnahme für das Wiener Institut dar. Meyer wollte den wirtschaftlichen Aspekt der
metrologischen Dienstleistungen seines Instituts allerdings nicht an die große Glocke
hängen, war er doch gegenüber seinen Kolleginnen und Kollegen peinlich darauf be-
dacht, die wissenschaftliche von der industriell-wirtschaftlichen Sphäre zu trennen.
189 MC, ALC, Fiche 3847 : Curie an Rutherford vom 2.8.1923.
190 Curie war schon 1919 mit dem U.S. National Bureau of Standards über die Exaktheit der Standardprä-
parate in Streit geraten, welche die Radium Chemical Company, Pittsburgh erstellt hatte. Vgl. Coursey/
Collé/Coursey 2002, 9.
191 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 295 : Meyer an Rutherford vom 12.12.1927.
192 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 22, Fiche 350 : Curie an Meyer vom 22.12.1927.
193 Vgl. Meyer 1950, 22. Die sowjetischen Standards wurden nicht in Wien, sondern in Brüssel bei der
Union Minière hergestellt. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 22, Fiche 350 : Meyer an Curie
vom 13.12.1927. Die Radiumvorräte Russlands beziehungsweise der späteren Sowjetunion wurden
am Radiuminstitut in Leningrad messtechnisch untersucht und geeicht. Das Institut war eine der bei-
den Filialen des Palasts für Maße und Gewichte, es hatte selbst aber keine Forschungsabteilung. Vgl.
Bundesarchiv Berlin, ab sofort : BAB, R 1519/37, Bl. 2 : Beitrag zur Denkschrift über den Neubau der
Physikalisch-Technischen Reichsanstalt vom 19.2.1942.
194 Vgl. CUL, RC, Add 7653, M 143 : Meyer an Rutherford vom 21.10.1912.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369