Page - 145 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Image of the Page - 145 -
Text of the Page - 145 -
Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 145
Auch am Institut für Radiumforschung arbeitete die Mehrheit unentgeltlich, nur ei-
nige erhielten kleinere Stipendien von der Notgemeinschaft oder Privatpersonen.252
Anders als Trowbridge und seine New Yorker Kollegen vom IEB vermuteten, kam
die Mehrzahl der in Wien tätigen Gäste in den frühen 1920er Jahren nicht, wie noch
in der Vorkriegszeit, aus den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Vielmehr inte-
ressierten sich besonders Radioaktivistinnen und Radioaktivisten aus den west- und
nordeuropäischen Staaten für einen Forschungsaufenthalt in Österreich. Dass Wien
zum »neuen Mekka« junger Skandinavier, Belgier beziehungsweise Holländer und
Deutscher avancieren konnte, lag zu einem Gutteil an den herrschenden wirtschaftli-
chen Verhältnissen.253 Denn die galoppierende Inflation machte den Aufenthalt für
Gäste aus Ländern mit relativ stabiler(er) Währung oft erst finanzierbar. Zudem gab es
in den neutralen Ländern Schweden oder Dänemark kaum politische Vorbehalte gegen-
über Österreich.254 Vor allem in der schwedischen scientific community gab es eine bis
in das 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition, sich wissenschaftlich und kulturell
am deutschsprachigen Raum zu orientieren.255 Auch die experimentelle Ausrichtung
der schwedischen Physik, insbesondere in Uppsala, mag dazu beigetragen haben, den
Kontakt zu den ebenfalls experimentell arbeitenden Physikern aus Österreich zu stär-
ken.256 Diese geographische wie inhaltliche Orientierung wurde auf schwedischer Seite
unterstützt durch die Vergabe von Stipendien, etwa durch die 1919 gegründete Sverige-
Amerika Stiftelsen.257 Umgekehrt waren es eben die neutralen Staaten Skandinaviens,
die Niederlande und das Deutsche Reich, in denen junge Radioaktivistinnen und Ra-
dioaktivisten aus Österreich Forschungsaufenthalte verbrachten, auch deshalb, um der
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Misere ihres Heimatlandes zu entkommen.258
Die politische Entfremdung zwischen den Nachfolgestaaten der Österreichisch-
Ungarischen Monarchie mag hingegen dazu beigetragen haben, dass das Wiener Insti-
252 Elisabeth Rona erhielt ein Stipendium aus dem Kreidl-Fonds. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K
17, Fiche 280 : Pettersson an Meyer vom 14.1.1928. Siehe zur Stipendienförderung von Frauen durch
den Deutschen Akademikerinnenbund Oertzen 2010.
253 Zitat bei CAC, MTNR 5/8/5, Bl. 8 : Hevesy an Meitner vom 22.6.1921. Vgl. auch Galison 1997a, 150,
der diesen Ausdruck allerdings auf die guten Arbeitsbedingungen für Frauen am Institut für Radiumfor-
schung bezieht.
254 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 237 : Knaffl-Lenz an Meyer vom 1.5.1921 ; CAC,
MTNR 5/8/5, Bl. 8 : Hevesy an Meitner vom 22.6.1921.
255 Vgl. Lindqvist 1993, xxi.
256 Zum schwachen Stand der theoretischen Physik in Schweden Gieser 1993, 25–26.
257 Vgl. Blanck 1989.
258 Siehe zu Studienaufenthalten von Österreichern in Skandinavien KVA, ACWO : Meyer an Oséen vom
27.10.1920 ; ebd. : Kirsch an Oséen vom 20.3.1921 ; ebd. : Thirring an Oséen vom 7.4.1922 ; KVA, ASA,
Serie E1, 25 : Thirring an Arrhenius vom 29.11.1921, und in den Niederlanden AÖAW, FE-Akten, IR,
NL Meyer, K 14, Fiche 232 : Kamerlingh Onnes an Meyer vom 26.6.1920.
back to the
book Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)"
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369