Page - 180 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Kernforschung in Österreich,
1932–1938180
Standardisierungswesen zu etablieren. Die Internationale Radiumstandard-Kommis-
sion trug den Entwicklungen in der Radioaktivitätsforschung nach dem Krieg Rech-
nung, indem sie die seit 1910 unveränderte Maßeinheit für radioaktive Strahlung,
Curie, erweiterte und modifizierte. 1930 gab sie eine neue Definition heraus, in der
diejenige Menge eines radioaktiven Elements als Äquivalent zum Radium angesehen
wurde, die die gleiche Menge an atomaren Zerfällen pro Sekunde aufweist wie ein
Milligramm Radium (3,7 x 107 Atome pro Sekunde). Mit dieser Entscheidung bestä-
tigte die Kommission, dass sich ein neues Experimentalsystem in der Radioaktivitäts-
forschung etabliert hatte, welches auf der Auszählung von Kernzerfällen beruhte. Von
der Definition ausgenommen blieben jedoch all jene radioaktiven Elemente, die nicht
zur Radium-Uran-Familie zählten.6
Auch in die Frage der Radiumstandards kam zu Beginn der 1930er Jahre Bewegung.
Die Diskussion, wie haltbar die in Umlauf befindlichen primären und sekundären
Radiumstandards seien, entspann sich am Pariser Urnormal, das Marie Curie 1912 für
die Kommission hergestellt hatte. Das im Präparat enthaltene Radium zerfiel und es
bildete sich dabei Helium, so dass das Glasröhrchen langfristig zu platzen drohte. Die
Warnungen, dass die Langzeit-α-Bestrahlung das umgebende Glas mürbe machte, ver-
stummten ebenfalls nicht.7 Die Mitglieder der Internationalen Radiumstandard-
Kommission kamen daher überein, die beiden alten gegen neue Primärstandards ein-
zutauschen. Ihr Handlungsrahmen war jedoch begrenzt, denn die Kommission ver-
fügte über keine eigenen radioaktiven Materialien, aus denen neue Standards herge-
stellt werden konnten. Es bedurfte daher einer konzertierten Aktion, in die neben
mehreren wissenschaftlichen Laboratorien auch die Union Minière eingebunden war.
Auf wissenschaftlicher Seite waren die gleichen Personen beteiligt, die schon 1910 die
ersten Primärstandards entwickelt hatten.
Der inzwischen in München wirkende Radiochemiker Otto Hönigschmid sollte die
Pariser und Wiener Primärstandards sowie eine Anzahl von Sekundärstandards herstel-
len, die in den Besitz der Union Minière übergingen. Das Institut für Radiumfor-
schung maß auf Bitten der Belgier gemeinsam mit dem Laboratoire Curie die Absorp-
tion der Metallbehälter, in denen sich die Standards befanden. Die Absorption der
Strahlung spielte vor allem im medizinischen Bereich eine Rolle, wo es auf die Menge
der effektiv austretenden Strahlung und weniger auf die im Metallröhrchen enthaltene
Menge an Radium ankam.8 Auf Drängen Curies stellte die Union Minière zudem
6 Vgl. AMPG, III. Abt., Rep. 45 NL Paneth, Nr. 59 : Meyer an Joliot-Curie vom 29.1.1948. Siehe auch
Boudia 1997, 261 ; Allisy 1995, 468.
7 Vgl. MC, ALC, Complément 2 : Service de Mesures, Types et méthodes de mesure, étalonnage, Boîte 48,
Fiche 5989 : Hönigschmid an Chamié vom 18.7.1939.
8 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 22, Fiche 351 : Meyer an Curie vom 2.12.1933.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369