Page - 239 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Das regionale Netzwerk wird zerstört 239
der Entdeckung der Kernspaltung nahm er jedoch nur noch als Zaungast teil.13
Nachdem ihm Anfang 1939 untersagt wurde, das Institut zu betreten, zog er sich auf
seinen Sommersitz nach Bad Ischl zurück.
Stefan Meyer hatte seinen in- und ausländischen Kolleginnen und Kollegen über
Jahrzehnte hinweg die Arbeit oft überhaupt erst ermöglicht, indem er ihnen radioak-
tive Präparate, Geräte und Instrumente zur Verfügung stellte ; nun war er seinerseits
auf auswärtige Hilfe angewiesen. Freunde überließen ihm wissenschaftliche Zeitschrif-
ten und Präparate, so dass er seine Forschung fortführen konnte – namentlich die
Entwicklung einer »Zauberformel«, um das chemische Atomgewicht der Elemente zu
ermitteln.14 Darüber hinaus versuchten ehemalige Institutsmitarbeiterinnen und
-mitarbeiter, aber auch ausländische Radioaktivisten und Radioaktivistinnen, ihm und
seiner Familie die Ausreise aus Österreich zu ermöglichen.15 Durch das Netzwerk der
Kommissionskollegen eröffneten sich ihm zwar Optionen, der nationalsozialistischen
Verfolgung ins Ausland zu entfliehen. Das Angebot der Joliot-Curies, vorübergehend
in Paris tätig zu werden, schlug Meyer aber aus.16 Daraufhin versuchten Hans Pet-
tersson und Lise Meitner mit Unterstützung Manne Siegbahns, die Ausreise der Fami-
lie Meyer nach Schweden zu organisieren. Nach Plänen Petterssons sollte Meyer als
Gastdozent und Experte für die geologische Anwendung der Radioaktivitätsforschung
an der Stockholmer Hochschule Arbeit finden.17
Dazu kam es aber nicht. Nach dem Krieg schilderte Meyer das Grauen der Kriegs-
jahre im Ischler Exil in einem Brief an Marietta Blau :
»Es ist mir immer wie ein Wunder, dass wir das überhaupt überlebt haben. Auswandern
konnten wir nicht, das hätte direkt geheissen meine Frau und deren Mutter den Mördern
überliefern. Mein Bruder, der Prof[essor]. an der Prager Universität war und sein Sohn, Bo-
taniker, wurden in Konzentrationslagern ermordet, ebenso fast alle Verwandten meiner Frau.
13 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 12, Fiche 199 : Meyer an Hahn vom 18.2.1939 ; ebd., K 22,
Fiche 353 : Meyer an Joliot-Curie vom 18.2.1939.
14 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 225 : Hönigschmid an Meyer vom 8.5.1938 ; ebd.,
K 10, Fiche 157 : Benndorf an Meyer vom 9.12.1939 ; CAC, MTNR 5/12/3, Bl. 79 : Meyer an Meitner
vom 21.9.1940.
15 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 208 : Lind an Hess vom 14.12.1938 ; MC, Fonds FFJ,
F 145, Fiche 331 : Hevesy an Joliot vom 7.3.1939 ; AMPG, III. Abt., Rep. 45 NL Paneth, Nr. 47 : Hess
an Paneth vom 7.10.1940.
16 Die Ausreise nach Frankreich scheiterte, weil Meyer sich weigerte, das Land zu verlassen. Er argumen-
tierte, dass es ehemaligen Hochschullehrern von der neuen Regierung streng verboten sei, »irgendwelche
Dienste im Ausland anzunehmen«. CAC, MTNR 5/13/3, Part I : Pettersson an Meitner vom 11.11. und
vom 25.11.1941.
17 Vgl. Sime 2001, 367.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369