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Das regionale Netzwerk wird zerstört 243
Daneben kündigten die US-Amerikaner an, neue Tabellen radioaktiver Zerfallskons-
tanten herauszugeben, die auch die Konstanten künstlich erzeugter radioaktiver Iso-
tope enthielten. Ein solches Projekt war seit Mitte der 1930er Jahre wiederholt von der
UIC angemahnt worden, da die Tabellen des Jahres 1930 unvollständig und mittler-
weile überholt waren.
Der US-amerikanische Vorstoß traf unter den Mitgliedern der Internationalen Ra-
diumstandard-Kommission auf ein geteiltes Echo : Während Meyer und andere die
Gefahr einer Zersplitterung durch verschiedene, miteinander konkurrierende Kom-
missionen sahen, begrüßte Frédéric Joliot die US-amerikanische Initiative.31 Meyer
schlug schließlich Samuel C. Lind von der University of Minnesota in Minneapolis als
Interim-Sekretär vor, der sicherstellen sollte, dass die »amerikanische Kommission in
Fühlung mit unserer alten Kommission« bis auf weiteres Standards herstellte und neue
Tabellen für die radioaktiven Zerfallskonstanten ausarbeitete und herausgab.32 Lind
war jedoch nicht bereit, den Posten zu übernehmen, da er die umfangreiche Korres-
pondenz mit den überwiegend in Europa arbeitenden Mitgliedern nicht auf sich neh-
men wollte. Er schlug daher Joliot vor, der in Paris an einem geographisch zentraleren
Ort wirkte.33 Sein Vorschlag wurde angenommen und Joliot im Mai 1939 von Meyer,
der das Amt des Präsidenten formal beibehielt, zum »amtsführenden Staatssekretär«
der Internationalen Radiumstandard-Kommission ernannt.34
Es dauerte nicht lange, bis sich die reichsdeutschen Behörden für die Wiener Stan-
dards zu interessieren begannen. Dabei ging es vorerst nicht um Standardisierungsfra-
gen im engeren Sinne, sondern um dringende kernphysikalische Forschungsarbeiten,
für die das Physikalische Institut der TH Berlin ein Gramm Radium aus Wien zu be-
kommen hoffte. Das REM wandte sich im Mai 1939 im Namen des Berliner Physika-
lischen Instituts an die Wiener Akademie, da
»an dem Institut für Radiumforschung in Wien […] erhebliche Radiummengen in Form
verschiedener Standards verwahrt [sind], die zur Zeit nicht unmittelbar für die Forschung
eingesetzt sind. Ich bitte zu prüfen und zu berichten, ob, nachdem heute verfeinerte Meß-
verfahren vorliegen, es nicht möglich ist, die vorhandenen Standards in kleinere Standards
31 Vgl. MC, ALC, Complément. 2 : Service de Mesures, Types et méthodes de mesure, étalonnage, Boîte 48,
Fiche 5979 : Joliot an Lind vom 13.1.1939.
32 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 22, Fiche 353 : Meyer an Debierne und Joliot-Curie vom 20.1.1939.
Lind hatte 1926 die Leitung der School of Chemistry an der University of Minnesota (School of Techno-
logy) übernommen. Er behielt diesen Posten bis zu seiner Pensionierung 1947. Vgl. Laidler 1998, 12–13.
33 Vgl. MC, ALC, Complément. 2 : Service de Mesures, Types et méthodes de mesure, étalonnage, Boîte 48,
Fiche 5981 : Lind an Joliot vom 14.2.1939.
34 Vgl. MC, FFJ, F 145, Fiche 330 : Meyer an Joliot vom 2.3.1939.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369