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Das regionale Netzwerk wird zerstört 245
zu jener Zeit bereits die Planung, wie das Messwesen in Europa künftig neu zu ordnen
sei :
»Nach dem Kriege […] hat die Physikalisch-Technische Reichsanstalt die Aufgabe, als
Reichsanstalt für den ganzen europäischen Raum für Einheitlichkeit, Sicherheit und Ord-
nung im technischen und wissenschaftlichen Meßwesen zu sorgen, und zwar auf allen ihren
Gebieten. Diese Aufgabe muß gleichzeitig mit der Neuordnung Europas überhaupt erfolgen ;
sie ist ein wesentlicher Teil dieser Neuordnung.«41
1941 befand sich das nationalsozialistische Deutsche Reich auf dem Höhepunkt seiner
Macht. Belgien und weite Teile Frankreichs standen unter seiner Besatzung. Es war
daher ein Leichtes, die in Brüssel und Paris befindlichen Primär- und Sekundärstan-
dards für Vergleichsmessungen mit dem Berliner Sekundärstandard der PTR zu requi-
rieren : Im April 1941 wurde die Union Minière einem deutschen Treuhänder unter-
stellt und unter die unmittelbare Kontrolle der deutschen Militärverwaltung für Bel-
gien und Nordfrankreich gebracht.42 Schon zuvor hatte die PTR eine größere Menge
Radium – 3,600 Gramm – aus dem Besitz der Union Minière in Berlin eichen las-
sen.43 Im Auftrag der PTR wandte sich der deutsche Beauftragte für Radium in
Zentraleuropa, Kriegsverwaltungsrat Kraft, bald darauf an die Brüsseler Unterneh-
menszentrale, um nicht nur an das Pariser Urnormal von 1911, sondern auch an den
Wiener Primärstandard II zu gelangen.44 Weiss wollte diesen Standard für weitere
Vergleichsmessungen verwenden.45 In Wien vermutete man hinter der Aktion nicht
zu Unrecht, dass »die PTR auch in radioaktiven Dingen entscheidend sein [will] und
das Wiener Radiuminstitut ausgeschaltet werden« solle. Kein Wunder also, dass sich
die Wiener weigerten, die dort noch befindlichen Primärstandards I und III nach Ber-
lin zu schicken.46
In Paris zeigte man sich kooperativer, obwohl die Statuten der Internationalen Ra-
diumstandard-Kommission ausdrücklich verboten, den Pariser Primärstandard aus
dem Bureau des Poids et Mesures zu entfernen. Die »accomodation volontaire« mit
41 Vgl. BAB, R 1519/37, Bl. 7 : Beitrag zur Denkschrift über den Neubau der PTR vom 19.2.1942.
42 Vgl. AR-AGR, UM, 259/554 : Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich (Militär-Verwaltungs-
Chef Abteilung Wirtschaft) an Société Générale Métallurgique de Hoboken vom 15.4.1941.
43 Vgl. AR-AGR, UM, 259/1072 : Département Radium, Note : Assurance du Radium à Berlin vom
25.2.1941.
44 Der Wiener Primärstandard Nr. II war 1934 gegen einen neuen Hönigschmid-Standard ausgetauscht
worden und befand sich bei der Union Minière in Brüssel. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17,
Fiche 271 : Ortner an Meyer vom 22.6.1942.
45 Vgl. AR-AGR, UM, 259/1072 : Stappen an Joliot-Curie vom 14.1.1941.
46 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 271 : Ortner an Meyer vom 5.10.1942.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369