Page - 248 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945248
Die Machtverhältnisse innerhalb der Internationalen Radiumstandard-Kommission
veränderten sich während des Krieges nicht nur zugunsten der Union Minière, son-
dern auch der Joliot-Curies in Paris. Frankreich war unter den ersten westeuropäischen
Ländern, die mit Unterstützung der Alliierten von den deutschen Besatzern befreit
wurden. Das Ehepaar Joliot-Curie nutzte den Vorsprung, um ihr Land im zukunfts-
trächtigen Feld der Kernphysik neu zu positionieren und zugleich sicherzustellen, dass
französische Kernphysikerinnen und Kernphysiker an wichtigen internationalen Ent-
scheidungen beteiligt wurden. Zugleich gingen sie offensiv daran, den Rückstand auf
dem Feld der Kernforschung aufzuholen, der durch das Verbot der deutschen Besat-
zungsbehörden entstanden war.60 Bei der Neuordnung der Internationalen Radium-
standard-Kommission konnten sie prinzipiell auf die Hilfe der USA zählen. Mitglieder
der US-amerikanischen Alsos-Mission, die über die Verhältnisse innerhalb der Kom-
mission nur ansatzweise informiert waren, glaubten, dass Frédéric Joliot Präsident und
Carl Friedrich Weiss als Vertreter der PTR reguläre Mitglieder der Kommission seien.
Stefan Meyer und das Institut für Radiumforschung waren gänzlich aus dem Fokus der
Amerikaner verschwunden. Die Field Information Agency, Technical (FIAT), eine
Unterabteilung des US-amerikanischen Militärgeheimdienstes, beschlagnahmte bei
Kriegsende deshalb dreizehn deutsche Sekundärstandards aus dem Besitz der PTR und
brachte sie nach Paris.61
Für die Joliot-Curies rückten die Standardisierungsfragen nach der Befreiung Frank-
reichs von der deutschen Besatzung im September 1944 vorübergehend in den Hinter-
grund. Joliot war als neuer Direktor des Centre national de la recherche scientifique
(CNRS) und seit 1946 als Hochkommissar für Atomenergie im neu gegründeten
Commissariat à l’énergie atomique (CEA) vollauf damit beschäftigt, das französische
Programm zur zivilen Nutzung der Kernenergie auf die Schiene zu setzen. Irène über-
nahm eine der drei Kommissariate des CEA. Während die Joliot-Curies mit anderen
Dingen beschäftigt waren, gingen Stefan Meyer und sein Freund und Kollege Otto
Hönigschmid im Sommer 1945 daran, die diskreditierten Wiener Standards und vor
allem den Primärstandard von 1911 zu rehabilitieren. Damit sollte das Institut für
Radiumforschung, dessen provisorische Leitung Meyer übernommen hatte, zugleich
Ortner, der der Kommission nicht angehörte, war zu dem Treffen in Paris im Sommer 1943 eingeladen
worden, erhielt aber keine Reisegenehmigung von den deutschen Behörden. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR,
NL Meyer, K 31, Fiche 428 : Weiss an Ortner vom 16.6.1943.
60 Vgl. Metzler 2000b, 698.
61 Vgl. National Archives and Records Administration College Park, ab sofort : NARA, RG 165, Box 139,
Entry 187 : Goudsmit an Robertson vom 18.7.1945. Detaillierte Informationen zu den bei der PTR
beschlagnahmten Standards finden sich ebd. : Memorandum von Bauman re Radium Standards of the
Physikalisch-Technische Reichsanstalt, Ronneberg vom 2.7.1945.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369