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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945266
waren große Teile Europas von der deutschen Wehrmacht besetzt ; außerdem
machte der Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion weitere Eroberungsfeldzüge
unwahrscheinlicher als bisher. Die Kerntechnologie galt grundsätzlich als aus-
sichtsreich, aber nicht als kriegsentscheidend.155 Andere Wehrmachtsteile verga-
ben zum Teil weit umfangreichere Aufträge, mit denen die Institute an den Uni-
versitäten Wien, Graz und Innsbruck ausgebaut werden konnten oder sich zumin-
dest der reguläre Institutsbetrieb aufrecht erhalten ließ. Die Physikalischen Insti-
tute der Universität und TH Graz erhielten 1942 aus dem Haushalt des Deutschen
Reiches beträchtliche Mittel, um ihre Laboratorien zu modernisieren ; begründet
wurde dies mit notwendigen Kriegsforschungen.156 In Wien bearbeitete Stetter,
neben dem Forschungsauftrag für den Uranverein von 1942 bis 1944/45, gemein-
sam mit Richard Herzog das Projekt Schwarzes U-Boot für die Marine. Das Un-
terseeboot sollte gegen Anpeilung durch Kampfflieger getarnt werden. Während
Herzog am I. Physikalischen Institut und Erwin Fues am Institut für Theoretische
Physik das Thema vornehmlich theoretisch durchdrangen, fanden am II. Physika-
lischen Institut experimentelle Versuchsreihen statt. Die Versuche wurden mit
großem Zeitaufwand betrieben und hatten zeitweilig eine höhere Dringlichkeits-
stufe als das Uranvereinsprojekt.157
Glaubt man den Aussagen der Wiener Kernphysikerinnen und Kernphysiker aus
der unmittelbaren Nachkriegszeit, so entsprachen die Aufträge des HWA »den norma-
lerweise im Frieden im Institut bearbeiteten Aufgaben. Durch die Erteilung der Auf-
träge wurde die Weiterarbeit des Instituts auch im Kriege gesichert.«158 Dies galt vor
allem in personeller Hinsicht : Die als dringlich eingestuften Wehrmachtsprojekte er-
möglichten es den Mitarbeitern, unabkömmlich gestellt, also nicht zum Militärdienst
eingezogen zu werden.159 Da die Kernforschung in den ersten drei Kriegsjahren weder
für das HWA noch für eine andere nationalsozialistische Institution absolute Priorität
hatte, wurde die Unabkömmlichkeit der Wissenschaftler wiederholt in Zweifel gezo-
155 Vgl. Walker 2005, 17–18, 23. Siehe zum Wandel der Trägerschaft von militärischen zu zivilen Instituti-
onen im Fall des Uranvereins Walker 1990a, 49–51.
156 Vgl. BAB, R 4901/14011 : Einmalige Ausgaben Wissenschaft, Nachweisung der Mehr- und Minderaus-
gaben zum Reichshaushalt, Einzelplan XIX für das Rechnungsjahr 1942.
157 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 66–69 : Aussagen des Doktors Alfred Bönisch vom 1. Physikalischen
Institut der Wiener Universität vom 4.5.1945.
158 ADM, Deutsche Berichte zum Atom-Programm 1938–1945, FA 002/0705 : Bericht über das II. Phy-
sikalische Institut der Wiener Universität derzeit in Thumersbach bei Zell am See Salzburg (3. Ausferti-
gung) vom 1.7.1945.
159 Vgl. ÖStA, AdR, Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen in Wien, K 3/AZ 1315, 1 (Teil 2) : NS-
DAP-Gauleitung Wien an Kurator vom 23.12.1942.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369