Page - 277 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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An der Peripherie des neuen Netzwerks 277
nisteriums trotz des negativen Befundes aufrechterhalten, um Radium für medizini-
sche und militärische Zwecke zu gewinnen. Ebenfalls auf Betreiben des Ministeriums
wurde im März 1939 die St. Joachimsthaler Bergbau GmbH gegründet, deren Kapi-
talstock zu gleichen Teilen von den drei genannten Unternehmen stammte. Obwohl
die Gesellschaft die Förderanlagen in den nordböhmischen Minen modernisierte,
blieb die Uranausbeute gering. Zwischen 1940 und 1944 produzierte die St. Joach-
imsthaler Bergbau GmbH jedes Jahr weniger als die anvisierten drei bis vier Gramm
Radium.
Wegen des hohen Radiumbedarfs der deutschen Rüstungsindustrie blieben Präpa-
rate für wissenschaftliche und medizinische Zwecke im Deutschen Reich während des
Krieges Mangelware.215 1940 übernahm die Radium-Syndikat GmbH die Verteilung
der Rohstoffe, die Produktion und den Vertrieb des knappen Gutes. Das Kartell der
radiumherstellenden und -verarbeitenden Industrie stand unter Aufsicht der Wirt-
schaftsgruppe Chemische Industrie.216 Da der Bedarf an Uranerzen und Radium die
Ausbeute in St. Joachimsthal regelmäßig überstieg, ging das Syndikat dazu über, radio-
aktive Materialien jeder Form im Ausland zu beschaffen.
Die Versorgung des Deutschen Reiches mit Uranerzen und Radium verbesserte sich
etwas, nachdem deutsche Truppen im Mai 1940 in Belgien einmarschiert waren.217
Die Union Minière verkaufte dem Radium-Syndikat im selben Jahr größere Mengen
Uranverbindungen, ob unter Zwang oder freiwillig muss offen bleiben. Mit der Beset-
zung Frankreichs im Juni 1940 geriet auch das in Paris befindliche Radium, unter
anderem das aus Brüssel entliehene Gramm der Joliot-Curies, in den Einflussbereich
deutscher Behörden. Um das Radium vor den deutschen Begehrlichkeiten zu schützen,
hatte Frédéric Joliot es im Sommer 1940 nach Südfrankreich gebracht.218 Bereits im
Jahr zuvor hatte er erfolgreich interveniert, damit die französische Regierung sämtliche
weltweit vorhandenen Vorräte an Schwerem Wasser aufkaufte, bevor die deutschen
Besatzer dies tun konnten. Das Schwere Wasser wurde nach Großbritannien verschifft,
215 Seit den frühen 1940er Jahren verdrängte die wachsende militär-industrielle zunehmend die medizini-
sche Nachfrage. Seit 1942 wurde Radium fast ausschließlich zur Herstellung von Leuchtfarben verwen-
det und der Verkauf an Krankenhäuser massiv zurückgefahren. Vgl. Gollmann 1994, 111.
216 Dem Syndikat gehörten die Allgemeine Radium AG Berlin, die Chininfabrik Buchler & Co. Braun-
schweig, die Radium-Chemie KG Frankfurt am Main, die Auergesellschaft Berlin und die TCW an. Die
St. Joachimsthaler Bergbau GmbH stand außerhalb des Syndikats, ihre Produktion sollte aber in die zu
verteilende Rohstoffmenge einfließen. Vgl. Gollmann 1994, 116.
217 Mit Unterstützung Joliots war es gelungen, einen Großteil des in Brüssel befindlichen Radiums der
Union Minière nach Großbritannien zu transferieren, kurz bevor deutsche Truppen Belgien besetzten.
Vgl. AR-AGR, UM, 259/1072 : Union Minière du Haut-Katanga an Joliot vom 8.4.1940.
218 Vgl. AR-AGR, UM, 259/1072 : Roussy an Union Minière vom 21.6.1940.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369