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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945278
kurz bevor die deutschen Besatzungstruppen in Frankreich einmarschierten.219 Es war
die Union Minière, die darauf drang, das entliehene Radium an Brüssel zurückzuge-
ben.220 Nachdem das Unternehmen zwei Gramm Radium verkauft hatte, benötigte
es die Pariser Leihgabe, um seinen weiteren Lieferverpflichtungen an das Deutsche
Reich nachkommen zu können.221 Frédéric Joliot zeigte sich den deutschen Behörden
gegenüber anfangs kooperativ, misstraute aber Kurt Diebner, dem einflussreichen Phy-
siker aus der Forschungsabteilung des HWA und späteren geschäftsführenden Direktor
des KWI für Physik in Berlin, den er im August 1940 erstmals in Paris traf.222 Dieb-
ner versprach, sich bei den deutschen Behörden dafür einzusetzen, dass das Radium
nach seiner Rückführung aus Südfrankreich zu wissenschaftlichen Zwecken in Paris
bleiben und nicht in das Deutsche Reich gebracht werden sollte.223 Joliot zögerte
lange, sich auf diesen Deal einzulassen und erklärte sich erst im Dezember 1941 bereit,
das Präparat zurückzugeben.224
Es ist unklar, ob der Uranverein seinen Bedarf an radioaktivem Material seit Juni
1940 durch die belgischen und französischen Lieferungen tatsächlich vollständig de-
cken konnte, wie Rainer Karlsch behauptet.225 Anfragen von Industrie und wissen-
schaftlichen Laboratorien aus dem »Altreich« an das Institut für Radiumforschung
lassen vermuten, dass dem in späteren Kriegsjahren nicht so war. 1941 verfügte das
Institut noch über 700 Milligramm in Form eingeschmolzener Präparate (Radiumstan-
dards) und 900 Milligramm in gelöster Form.226 Die Zeiten, in denen die internatio-
219 Vgl. Metzler 2000b, 687.
220 Vgl. AR-AGR, UM, 259/1072 : Département Radium, Cobalt & Urane an Joliot vom 28.10.1940.
221 Vgl. AR-AGR, UM, 259/1072 : Union Minière an Joliot vom 3.10.1941. Siehe zu den aus Belgien
in das Deutsche Reich fließenden Mengen an Uranverbindungen Gollmann 1994, 77–78. Die 1940
gegründete Radium-Syndikat Gesellschaft, ein Zusammenschluss der deutschen Radiumindustrie, über-
nahm im Auftrag der Reichsstelle Chemie die Beschaffung und Verteilung der im In- und Ausland zur
Verfügung stehenden Radiummengen. Vgl. ebd., 117. Nach den Berechnungen der Alsos-Mission ge-
langten zwischen Juni 1940 und September 1944 insgesamt über 1.000 Tonnen Uranerze in das Deut-
sche Reich. Ebd., 92.
222 Vgl. NARA, RG 77, Box 162, Entry 22 : Interview with Professor F. Joliot, London, September 5th and
7th 1944.
223 Vgl. AR-AGR, UM, 259/1072 : Département Radium, Cobalt & Urane, Am Collège de France gelasse-
nes Radium vom 28.10.1940.
224 vgl. AR-AGR, UM, 259/1072 : Union Minière an Kriegsverwaltungsrat, Militärbefehlshaber in Belgien
und Nordfrankreich vom 2.2.1942.
225 Vgl. Karlsch/Zeman 2007, 61. Auch Gollmann verweist darauf, dass der Uranverein bevorzugt mit radio-
aktiven Präparaten versorgt wurde, ohne dies jedoch zu belegen. Vgl. Gollmann 1994, 115. Karner vertrat
in den 1970er Jahren die These, die TCW hätten Ammonuranprodukte über Tarnfirmen an die Reichs-
stelle für Chemie geleitet, die diese wiederum dem Uranverein zukommen ließ. Vgl. Karner 1976, 245.
226 Vgl. ÖStA, AdR, Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen in Wien 1940–1945, K 19/6147A : Kura-
tor an Rust vom 1.6.1941.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369