Page - 302 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945302
passt. Geologische Untersuchungen nahmen am Gasteiner Forschungsinstitut unter
seiner Leitung bis 1942 nur einen sehr geringen Raum ein.342 Der Institutsbetrieb
wurde 1942 kriegsbedingt vorübergehend stillgelegt und Kirsch in Unfrieden aus sei-
ner Leitungsposition entlassen.343
Nachdem er 1941 zum Leiter des wiedererrichteten I. Physikalischen Instituts er-
nannt worden war, schlug Kirsch gemeinsam mit seinem Kollegen Friedrich Hecht
dem RFR erneut vor, in Wien eine Zentralstelle für geologische Zeitmessung zu errich-
ten. In ihrem überarbeiteten Exposé gingen sie weit über die Pläne von 1938 hinaus
und wurden dabei von Viktor Christian, Dekan der Philosophischen Fakultät der
Universität Wien und »tätiges Mitglied« des Ahnenerbes, unterstützt.344 Christian
leitete Kirschs Exposé an den Verein weiter.345 Kirsch und Hecht schlugen darin vor,
in der Zentralstelle Zerfallsvorgänge in radioaktiven Mineralien mittels verschiedenster
chemischer und physikalischer Methoden zu untersuchen. Wie Kirsch bereits drei
Jahre zuvor gefordert hatte, sollte die Zentralstelle am I. Physikalischen Institut ange-
siedelt und von Friedrich Hecht geleitet werden.
Hecht beschäftigte sich wie Kirsch bereits seit den 1920er Jahren mit der geologi-
schen Zeitmessung, allerdings konzentrierte er sich auf chemische Analysemethoden
und seit 1931 auf die quantitative Mikroanalyse radioaktiver Mineralien. Bis zum
Eintritt der USA in den Krieg gegen das Deutsche Reich 1941 hatten beide eng mit
dem amerikanischen Committee on the Measurement of Geologic Time des National
Research Council zusammengearbeitet, welches regelmäßig Mineralienproben zur Mi-
kroanalyse nach Wien schickte.346 Nun galt es, den angeblichen wissenschaftlichen
Vorsprung gegenüber den US-amerikanischen Konkurrenten auszubauen und institu-
tionell abzusichern. Um sich für das Forschungsprogramm des Ahnenerbes zu empfeh-
len, führten Kirsch und Hecht in ihrem Exposé vom Sommer 1941 aus,
»dass sich der hauptsächliche Besitz [an radioaktiven Mineralien, S. F.] in Händen Amerikas,
der großen Kolonialmächte und Russlands befindet. Eben diese Länder sind an der Ausbil-
dung der Methoden für die geologische Zeitmessung interessiert, zumal diese Verfahren eine
wichtige Hilfe vom Standpunkt der Rohstoffbeschaffung darstellen können. […] Im Hin-
342 Kriegsverletzte sollten beispielsweise mit Gasteiner Wasser behandelt werden. Vgl. Knierzinger 2012,
122–123.
343 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 45, Fiche 653 : Meyer an Karlik vom 8.7.1942.
344 Leitner 2010, 60. Christian war 1939 von Heinrich Himmler zum Abteilungsleiter der Lehr- und For-
schungsstätte für den Vorderen Orient des Ahnenerbes berufen worden.
345 Vgl. BAB, BDC, Kirsch, Gerhard, 21.6.1890, DS/G 124 : Christian an Sievers vom 7.6.1941.
346 Vgl. NARA, RG 498, Box 111, Entry ETO IS-Y Sect. : Preliminary Interrogation Report : Dr. Friedrich
Hecht vom 13.9.1946.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369