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Schluss 329
Diese Studie fokussierte auf die in Österreich tätigen Wissenschaftler und Wissen-
schaftlerinnen und betrachtete die Forschungsaktivitäten von Emigranten und Emig-
rantinnen nur am Rande. Das Schicksal der Emigration war für die Vertriebenen mit
großer persönlicher Tragik verbunden. Für die hier Gebliebenen machten die Vertrei-
bungen den Weg frei für die Schüler der Exner-Schüler, darunter auch einzelne Frauen,
um sich an den österreichischen Universitäten beruflich zu etablieren. Sie traten an die
Stelle zweier Generationen, die den akademischen Arbeitsmarkt über fast drei Jahr-
zehnte dominiert hatten und führten deren Forschungsrichtung ohne tiefgreifende
inhaltliche Änderungen weiter.
Wie die Studie zeigte, waren die Zirkulation von Personen, Präparaten und Publika-
tionen sowie der Zufluss von internationalen Geldern entscheidend dafür, dass sich ein
internationales Netzwerk von Radioaktivitätsforschern und -forscherinnen überhaupt
bilden konnte. Die Diskurse über den universalen Anspruch der Naturwissenschaften
trugen aber mindestens ebenso dazu bei, das internationale Netzwerk über Kriege und
politische Krisen hinweg stabil zu halten. Nationalistische und lokalpatriotische Über-
zeugungen stärkten hingegen den Zusammenhalt regionaler Netzwerke.
Es ist bezeichnend, dass die deutschsprachige Radioaktivistengemeinschaft in
Österreich-Ungarn ihren Anspruch auf die Ressourcen der Monarchie – insbeson-
dere das Radium – in ein nationalistisches Argument verpackte. »Österreichisch«
wurde mit »deutsch« gleichgesetzt. Diese Exklusivität spiegelte sich auch in der Ver-
wendung der Sprache wider. Deutsch war als Wissenschaftssprache in der Habsbur-
germonarchie allgegenwärtig. Dementsprechend verständnislos und ablehnend re-
agierte die deutschsprachige Radioaktivistengemeinschaft Österreich-Ungarns auf
die Forderung tschechischer Nationalisten, ihre eigene Sprache zu verwenden, um
radioaktive Zerfallsprozesse zu beschreiben. Die Indifferenz beziehungsweise Antipa-
thie, mit der die slawischsprachigen Einwohner des Vielvölkerstaates betrachtet
wurden, stand im Gegensatz zur Selbstverständlichkeit, mit der über die Grenzen der
Monarchie hinweg kommuniziert wurde. Englisch, Französisch und teilweise auch
die skandinavischen Sprachen standen im Wissenschaftsverkehr gleichberechtigt ne-
ben Deutsch.
Vor dem Ersten Weltkrieg war der nationalistische Diskurs, der »österreichisch« mit
»deutsch« gleich- und den anderen Volksgruppen voransetzte, unter Radioaktivisten
und Radioaktivistinnen weit verbreitet. Der grenzüberschreitende Wissenschaftsver-
kehr wurde mit dem Beginn des Krieges 1914 erstmals in Frage gestellt. Für die
deutschsprachige Radioaktivistengemeinschaft der Monarchie führte der Schulter-
schluss mit den »reichsdeutschen Waffenbrüdern« in die internationale Isolation. Al-
lerdings gelang es Einzelnen, auf der persönlichen Ebene weiterhin mit Kollegen und
Kolleginnen im feindlichen Ausland brieflich zu kommunizieren.
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book Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)"
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369