Page - 331 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Schluss 331
bedeutende Mitglieder dieser Forschergeneration, unter ihnen die beiden Wiener
Physiker Stefan Meyer und Karl Przibram, vertrieben worden waren, übernahm 1938
eine Gruppe von nationalsozialistisch gesinnten jüngeren Kernforschern und Kernfor-
scherinnen das Ruder. Die Gruppe ging offensiv daran, ihren Platz in der Wissen-
schaftslandschaft des nationalsozialistischen Deutschen Reiches zu reklamieren. Es
gelang aber nur ansatzweise, sich in bereits bestehende, über Jahrzehnte gewachsene
innerdeutsche Netzwerke einzubringen.
Insgesamt scheint die Strategie, auf einen eigenständigen nationalistischen Diskurs
im internationalen Wissenschaftsverkehr zu verzichten, unter allen denkbaren Haltun-
gen (Universalismus, Internationalismus, Nationalismus, Lokalpatriotismus) am er-
folgreichsten gewesen zu sein, um sich als eigenständige Gruppierung in der internati-
onalen Wissenschaftsgemeinschaft zu behaupten und einen Namen zu machen.
Welche Rolle spielten Internationalität, Universalismus und Nationalismus als Ar-
gumente gegenüber dem Staat ? Wie die Studie zeigte, förderte der Staat internationale
Austauschprozesse in der Radioaktivitätsforschung kaum. Auch als Auftraggeber für
internationale Forschungsprojekte spielte er keine Rolle. In Österreich-Ungarn hatte
die kosmopolitisch agierende frühe Radioaktivistengemeinschaft gegenüber der k. k.
Ministerialbürokratie vielmehr einen schlechten Stand. Die Interessen der Wissen-
schaft widersprachen vielfach den ökonomischen Interessen der Bürokratie. Erst nach
Kriegsende verhielt sich die Ministerialbürokratie etwas wohlwollender gegenüber
ausländischen Interessen und Anliegen, denn sie war letztlich auf die Hilfe des Auslan-
des angewiesen, um den heimischen Wissenschaftsbetrieb aufrechtzuerhalten. Dem-
entsprechend ließen sich Vertreter des Bundesunterrichtsministeriums durchaus davon
beeindrucken, wenn die Physiker ihre Geldforderung mit dem Verweis unterstrichen,
wie sehr sich ausländische Institutionen für die Kern- und Höhenstrahlungsforschung
interessierten. Das Argument der Internationalität stach allerdings nur so lange, wie
öffentliche Gelder für die Forschungsförderung überhaupt vorhanden waren. In dem
Maße, wie die Folgen der Weltwirtschaftskrise in Österreich spürbar wurden, hatten
nationalstaatliche Interessen, wie beispielsweise die Sparpolitik der autoritären stände-
staatlichen Regierung, wieder oberste Priorität.
Das Beispiel der Radioaktivitäts- und Kernforschung zeigt eindrucksvoll, dass die
Koordinaten, die einen Knotenpunkt in einem wissenschaftlichen Netzwerk als zentral
oder peripher definieren, konsequent historisiert werden müssen. In Österreich ver-
schoben sich die Netzknotenpunkte Wien, Graz und Innsbruck durch eine Abfolge
von Kriegen, wirtschaftlichen Krisen und wechselnden politischen Herrschaftssyste-
men in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in zweifacher Hinsicht. Wien, die Resi-
denzstadt der Habsburger und neben Budapest Hauptstadt der Österreichisch-Unga-
rischen Monarchie, wurde nach dem Ersten Weltkrieg vom unbestrittenen wissen-
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book Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)"
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369