Page - 333 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Schluss 333
für Radiumforschung dazu anhielt, in erster Linie die physikalischen Aspekte der Ra-
dioaktivität zu untersuchen. Das Bundesministerium für Unterricht unterstützte die
starke Präsenz von Physikern in der Radioaktivitätsforschung durch seine Besetzungs-
politik, die Umstrukturierung von Instituten und die Ressourcenverteilung. Nach dem
Ersten Weltkrieg verlor Wien für den wissenschaftlichen Nachwuchs der ehemaligen
Kronländer, der sich für Radioaktivitätsforschung interessierte, tendenziell an Attrak-
tivität. Wer konnte, verschaffte sich ein Stipendium, um bei Marie Curie in Paris, Niels
Bohr in Kopenhagen oder an einem der aufstrebenden US-amerikanischen Labors zu
forschen. Im Wettbewerb um helle Köpfe zog Wien also tendenziell den Kürzeren. Der
vergreisende Lehrkörper im Fach Physik tat ein Übriges, um das Denken in neuen
inhaltlichen Bahnen zu behindern, wenn nicht gar zu unterbinden. Überspitzt formu-
liert, trug das alte Zentrum Wien selbst dazu bei, im internationalen Wettbewerb im-
mer weiter abgedrängt zu werden.
Es bleibt zu klären, wie sich das Verhältnis Wiens zu den kleineren Universitätsstäd-
ten Graz und Innsbruck wandelte, die von jeher eine relativ randständige Position im
österreichischen Wissenschaftsbetrieb eingenommen hatten. Betrachtet man das Feld
der Radioaktivitätsforschung, dann lässt sich in den beinahe 50 Jahren, die hier unter-
sucht wurden, ein Wandel in deren Verhältnis ausmachen. Die im Vergleich zu Wien
schlechtere Ressourcenausstattung blieb an den Grazer und Innsbrucker Instituten
zwar unverändert, doch dank der speziellen topographischen Bedingungen in Inns-
bruck gelang es, das neue Forschungsfeld der kosmischen Höhenstrahlung zu erschlie-
ßen. Es bedurfte allerdings der Hilfe aus dem Ausland, um das Kräfteverhältnis und
die innerösterreichische Dynamik zu durchbrechen, welche die Ressourcen tendenziell
auf das Zentrum hinlenkte. Mit Geldern der Rockefeller Foundation und der deut-
schen Notgemeinschaft entstanden in Innsbruck und Graz innovative Forschungsin-
seln, die durch Exner-Schüler der zweiten Generation begründet wurden, die in Wien
keine Aussicht hatten, eine akademische Karriere zu machen.
Wie in einem Brennglas lassen sich am Beispiel Österreich grundlegende Verände-
rungen aufzeigen, die das wissenschaftliche Feld der Radioaktivitätsforschung in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchlief. Diese waren nicht ausschließlich wissen-
schaftsintern motiviert. Der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchie, das Schei-
tern der Demokratien in Europa, die nationalsozialistische beziehungsweise austrofa-
schistische Diktatur im Deutschen Reich und Österreich, schließlich der Zweite
Weltkrieg und die Befreiung vom Nationalsozialismus stellten bedeutende politische
Zäsuren dar, die sich auf das wissenschaftliche Feld auswirkten. Die Kernforschung in
Österreich ging aus dem »Zeitalter der Extreme« (Hobsbawm) geschwächt hervor. Es
bedurfte einer konzertierten Aktion mehrerer europäischer Partner, damit sie im Kon-
text des CERN wieder an internationale Entwicklungen anschließen konnte.
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book Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)"
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369